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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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rufen, doch alles, woran sie sich erinnern konnte, waren
die Kleidungsstücke der Frauen, mit ihrem eigenen Gesicht darüber, das
ihr aus dem Spiegel entgegenblickte. Nein, Alice war größer gewesen als
sie, und Jane erheblich dicker. War es jemand vor Alice gewesen? Vage
entsann sie sich einer Frau in Leeds, die langsam gestorben war,
nachdem Daisy ihr über einen Zeitraum von mehreren Wochen Eibenrinde
ins Essen geraspelt hatte. Da es ihr aber trotzdem gutzugehen schien,
war Daisy bereits drauf und dran gewesen, auf eine andere Pflanze
umzuwechseln. Und dann war sie plötzlich tot umgekippt, anscheinend
durch einen Herzanfall. Doch Daisy hoffte trotzdem, ihr Herz sei durch
die Eibenrinde geschwächt worden. Es wäre doch Verschwendung von Zeit
und Mühe gewesen, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben wäre.
    Wie war doch gleich der Name dieser Frau gewesen? Hatte sie
auch Jane geheißen? Sie wusste es einfach nicht mehr.
    Einerlei. Passend zum Kleid wählte Daisy eine sehr hübsche
Halskette, die, wie sie sich entsann, Violet Chambers gehört
hatte – früher. Die Kette verlieh dem Kleid Eleganz. Als sie
mit Ankleiden fertig war, war es fast Zeit, zu gehen.
    Es war schon beinahe dunkel, als sie das Hotel verließ. Und
die Promenade erwachte zum Leben: Was bei Tageslicht grelle Farbe und
verwittertes Holz gewesen war, verbarg sich jetzt im Glanz der
Glühlampenketten, die den Eingang säumten und sich eine lange Strecke
die Promenade entlangzogen wie glitzernde Wassertropfen an
Spinnenfäden. Daisy hörte auch Musik: ein regelmäßiges, hypnotisches
Dröhnen, das in seltsamem Kontrapunkt als Echo von den Häuserwänden
zurücktönte. Wie konnten die Menschen bloß hier leben, Nacht für Nacht,
mit diesem unentwegten Krach? Der Bus war pünktlich, und die Fahrt über
kurvenreiche Landstraßen und durch unbekannte Dörfer lang genug, dass
Daisy ins Dösen verfiel. Der Bus war halbvoll, die Passagiere waren zur
Hälfte Teenager und zur Hälfte ältere Leute, manche davon
wahrscheinlich auch auf dem Wege ins Theater von Clacton.
    Daisy nahm absichtlich von niemandem Notiz. Dafür war später
noch Zeit genug. Hin und wieder schaute sie aus dem Fenster, aber die
hereinbrechende Dunkelheit bewirkte, dass sie immer öfter nur ihr
eigenes Spiegelbild sah. Und während sie mehr und mehr ins Träumen
geriet, wurde dieses Bild manchmal zu einer der Frauen, die sie im
Leben verdrängt hatte. Einmal, als sie hinschaute, war die Frau, die
ihr entgegenblickte, dünner als sie, und sie trug eine Brille:
Deirdre – Deirdre Irgendwas? Ein anderes Mal war es die
verstorbene Daisy Wilson, die sich umwandte und ihrem Blick begegnete,
die Augen tief im aufgedunsenen Fleisch eingesunken, das weiße Haar auf
dem Kopf zu einem traurigen Überbleibsel der hochtoupierten Haarpracht
zusammengerafft, die sie einst so stolz getragen hatte.
    Und einmal, als Daisy die Augen aufschlug und in den dunklen
Spiegel des Fensters sah, starrte ein junges Mädchen sie an. Ein
rothaariges Mädchen in einem Blümchenkleid, die ganze Vorderseite mit
etwas Dunklem, Feuchtem und Grässlichem befleckt.
    Mit einem jähen Ruck war Daisy hellwach. Ihr Herz raste zum
Zerspringen. Sie sog tief den Atem ein und musste sich anstrengen, die
Luft an dem Klumpen in ihrer Kehle vorbeizusaugen. Ganz allmählich fand
ihr Herz zu seinem gewohnten Rhythmus zurück.
    Daisy kannte das Mädchen. Sie kannte das Gesicht, sie kannte
sogar das Kleid, doch es war etwas an diesem Mädchen, woran sie nicht
denken wollte. Als sie das Foto in der Bibliothek erblickt hatte, hatte
sie das Buch zugeschlagen und war gegangen. Jetzt heftete sie den Blick
gezielt auf die Lichter außerhalb des Fensters in der Absicht, alle
Spuren dieses Mädchens aus ihrer Erinnerung zu löschen.
    Jetzt fuhr der Bus nach Clacton hinein. Die Lichter hier waren
heller als in Leyston, die Musik war lauter, und überhaupt war alles
intensiver. War Leyston der scheue, zurückgezogene Bruder, so war
Clacton die ältere, extrovertierte und ziemlich vulgäre Schwester.
    Daisy schloss sich blindlings ein paar anderen älteren
Passagieren an und verließ den Bus; und wirklich war es nur ein kurzer
Weg bis zum Theater. Als sie an der Fassade hinaufblickte, ging ihr
auf, dass sie sich gar nicht erkundigt hatte, welches Stück an diesem
Abend gespielt wurde. Jetzt sah sie dort oben den Titel und musste
unwillkürlich kichern.
    Arsen und Spitzenhäubchen.
    Wie passend. Wie überaus passend.
    Die Zuschauer, die ins

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