Kaltes Gift
Sie uns was überlegen, wenn das Stück zu Ende
ist. Vielleicht könnte ich Sie mitnehmen?«
Daisy trank ihr Glas aus und merkte, dass es in ihrer Hand ein
wenig zitterte. Also begann er wieder – der lange Tanz der
Freundschaft, Abhängigkeit und letztendlich des Todes. Ihr war, als
stünde sie am Rande eines langen Abhanges. Ein Schritt, ein kleiner
Schritt nur, und sie hatte sich festgelegt.
»Das wäre wundervoll«, sagte sie.
Daisy bekam vom Rest des Stückes kaum etwas mit. Sie war zu
sehr damit beschäftigt, im Kopf ihr eigenes Schauspiel zu proben: ihre
Rolle einzuüben, bis Worte und Aussage perfekt waren; zwischen
verschiedenen Spielorten für die Szenen zu wählen, bis sie diejenigen
fand, die am besten die Stimmung untermalten, die sie heraufbeschwören
wollte. Nach dem letzten Vorhang gingen die beiden plaudernd zu Sylvias
Wagen, und während der Fahrt plauderten sie weiter. Und als sie vor dem
Bahnhof ankamen, wo Daisy abgesetzt werden wollte, hatten sie
verabredet, sich am nächsten Tag in dem Café neben dem Postamt zu
treffen – es war das einzige, das Daisy kannte, obgleich sie
das lieber nicht zugab. An diesem Abend legte sie sich triumphierend
schlafen, und sie schlief wie eine Tote.
Am nächsten Morgen wachte Daisy früh auf. Sie hatte eine Menge
zu tun. Nach einem schnellen Frühstück lief sie in der Stadt herum, bis
sie einen Wohnungsmakler gefunden hatte, der ihren Vorstellungen
entsprach: nicht zu großspurig, aber auch nicht heruntergekommen, einen
in einer Seitenstraße, der einheimische Kunden bediente und nicht
Urlauber, die eine Wohnung für den Sommer mieten wollten.
Daisy wusste genau, was sie wollte, und lehnte höflich alles
ab, was man ihr zeigte, bis der junge Mann, der sie bediente, ihr das
Foto eines kleinen Hauses vorlegte, das ein wenig abseits der Stadt
nahe an den Klippen lag. Altmodischer Stil, mit einem kleinen Garten
dahinter und mit einer Passionsblume, die sich an dem überdachten
Vorbau hochrankte und bis zu einem Fenster im ersten Stock
hinaufkletterte – es war genau das, wonach sie suchte. Im
Obergeschoss wohnte bereits ein ausländisches Mädchen, das am College
der Stadt studierte. Das Erdgeschoss war noch zu vermieten. Es war,
fand Daisy, während sie das Foto betrachtete, genau das richtige Netz,
um die Fliege darin zu fangen, nach der sie suchte. Sie legte
Rechnungen vor, die an Daisy Wilsons alte Adresse gerichtet waren, um
ihre Identität nachzuweisen, darauf bekam sie einen Satz Schlüssel und
zog los, um die Wohnung selbst zu besichtigen, obwohl der junge Mann
anbot, sie hinzufahren. Darauf kam es jetzt kaum noch an.
Die Wohnung war ein wenig klein für ihre Zwecke, mit einem
Wohnzimmer an der Vorder-, einem Schlafzimmer an der Rückseite und
einer Küche mit Essecke an der Seite. Wenigstens hatte sie eine kleine
Veranda, wodurch sie weniger unelegant wirkte. In dem Bewusstsein, dass
sie ja nicht lange dort wohnen würde, vorausgesetzt, es verlief alles
nach Plan, kehrte sie schnurstracks zu dem Makler zurück und
hinterlegte die Kaution. Sie hatte noch fast eine Woche das Hotel
gebucht, das verschaffte ihr Zeit, einiges an Mobiliar anzuschaffen und
die Wohnung so aussehen zu lassen, als wohne sie dort schon geraume
Zeit. Bis dahin musste sie es so einrichten, dass Sylvia sie zu sich
einlud, nicht umgekehrt.
Auf dem Rückweg vom Makler entdeckte Daisy in den rückwärtigen
Straßen drei Läden, die Second-hand-Möbel verkauften und auch
lieferten. Sie brauchte Sachen, die benutzt aussahen. Sachen, die sie
ebenso gut von irgendwoher mitgebracht haben konnte.
Am Nachmittag trafen sich Daisy und Sylvia auf einen Kaffee.
Sie unterhielten sich anderthalb Stunden lang über belanglose Dinge:
die Aufführung vom Vorabend, das Wetter, und wie hübsch die Stadt war.
Gegen Ende erzählte Sylvia Daisy von ihrem Mann, dass er fünfzehn Jahre
lang Mitglied der freiwilligen Seenotrettung gewesen war, ehe der Krebs
ihn dahingerafft hatte. Ihre Augen waren blank von ungeweinten Tränen.
Daisy riskierte es, ihr sanft die Hand zu tätscheln und ihr ein
Papiertaschentuch anzubieten.
Daisy ihrerseits erzählte, dass sie fast drei Jahrzehnte lang
Krankenschwester gewesen sei und die Anforderungen des Berufes ihr nie
gestattet hatten, jemanden zu finden, mit dem sie sich häuslich
niederlassen konnte. Dann griff sie auf Elemente der Geschichte zurück,
die sie ursprünglich nach Leyston verschlagen hätten: Sie erzählte
Sylvia, ihre Schwester sei krank geworden,
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