Kaltes Gift
Theater strebten, waren zumeist Leute
etwa ihres Alters, und in ihrem Kleid und dem Mantel fiel sie in der
Menge überhaupt nicht auf. Sie trat an den Kartenschalter und ließ sich
ein Billet für den Rang geben. Die besseren Leute pflegten im Rang zu
sitzen, hatte sie festgestellt.
Ein paar Minuten ehe sich der Vorhang hob, setzte sie sich auf
ihren Platz und blickte sich um. Das Theater war etwa halbvoll, und sie
konnte schon jetzt in ihrer Umgebung ein paar potenzielle Kandidatinnen
ausmachen. Aber am besten wartete man bis zur Pause und sah dann, was
sich ergab.
Das Stück wurde gut gespielt, und die Kulissen waren eine
überzeugende Reproduktion einer heruntergekommenen Pension der
fünfziger Jahre, doch nach einer Weile merkte Daisy, wie ihre Gedanken
abschweiften. Sie kannte keinen der Schauspieler – bestimmt
waren sie durch irgendwelche Fernsehserien oder so etwas bekannt, doch
sie sah selten fern. Sie wuselten auf der Bühne herum und brachten die
Zuschauer immer wieder mit der Geschichte von zwei alten Damen zum
Lachen, die die allein reisenden männlichen Gäste ihrer Pension
umbrachten und sie im Keller begruben, doch Daisy fand das alles zu
hektisch und zu wenig glaubhaft.
Zwei Reihen vor ihr, ein wenig zur Linken, saß eine Frau. Sie
hatte weißes Haar und war recht stämmig. Der Platz links neben ihr war
frei, und auf dem rechts neben ihr saß ein Mann, doch er war viel
jünger als sie, und sein Kopf war der Person an seiner anderen Seite
zugeneigt. Die Frau trug einen Seidenschal um den Hals und war ganz
fasziniert von dem Stück, und Daisy war mehr und mehr fasziniert von
ihr, je länger die Vorstellung dauerte. Sie musste sie unentwegt
ansehen, betrachtete die Linie ihres Halses, die Form ihres Ohrs,
beobachtete, wie der Ohrring, den sie trug, im Licht funkelte. Daisy
spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte: Dies war die Sorte Drama, die
ihr gefiel.
Die Pause kam, und Daisy manövrierte sich rasch aus ihrer
Reihe heraus und richtete es so ein, dass sie in der Schlange vor der
Bar dicht vor ihr zu stehen kam. Sie wollte sichergehen, dass sie
gesehen wurde. Es war immer besser, wenn die Beute den ersten Schritt
machte und nicht der Räuber.
Daisy kaufte sich zu einem exorbitanten Preis einen kleinen
Gin Tonic und setzte sich dann wohlüberlegt ganz in der Nähe an einen
Tisch am Fenster, an dem noch ein zweiter Stuhl stand. In der Bar war
es unangenehm warm, hier jedoch strich eine kühle Brise von außen
herein, angereichert mit dem Duft von Zuckerwatte und heißem Öl vom
nahen Strand. Sie legte sich einen Gesichtsausdruck stiller Resignation
zu und blickte gedankenverloren aus dem Fenster.
»Verzeihen Sie, ist dieser Platz besetzt?«
Sie wandte den Kopf. Die Frau, die sie im Visier hatte, stand
neben dem leeren Stuhl.
»Nein, ich bin … Nein, bitte sehr.«
Die Frau setzte sich. Sie hielt ein Glas Weißwein in der Hand.
Über die Gerüche hinweg, die von draußen hereinkamen, konnte Daisy ihr
Parfüm wahrnehmen. »Mein Name ist Sylvia – Sylvia McDonald.
Gefällt Ihnen das Stück?«
»Es ist sehr gut. Ja, sehr gut«,
erwiderte Daisy. »Ich gehe nicht viel aus, da genieße ich das Theater
ganz besonders.«
»Mir geht es genauso. Ich fand die Schauspieler unglaublich
gut.«
»Und es ist auch so ein hübsches Theater.«
»Ja, wirklich. Und so bequem gelegen.«
»Wohnen Sie hier in der Nähe?«
»Ich wohne in Leyston«, sagte die Frau. »Ich bin heute Abend
mit dem Auto hergefahren. Ich parke gleich hier die Straße runter.«
»Daisy. Daisy Wilson.«
Sie hoben die Gläser und lächelten.
»Mein Mann hat das Theater so geliebt«, sagte Sylvia nach
einer Weile.
Daisy blickte sich um. »Ist er …«
»Ich hab ihn verloren, letzten Monat war es neun Jahre her.«
»Das tut mir schrecklich leid.«
»Und Sie?«
»Oh«, sagte Daisy, »ich habe nie geheiratet. Es gab da mal
einen Mann, aber …« Sie verstummte und überließ es Sylvia, den
Rest der Geschichte zu erraten. »Ich bin gerade nach Leyston gezogen«,
fuhr sie fort. »So ein friedlicher Ort.«
»Ja, es kann dort sehr schön sein«, bekräftigte Sylvia.
Es klingelte zum zweiten Akt. Daisy merkte, dass ihr nur
wenige Sekunden für ihren nächsten Schachzug blieben. »Es kann aber
auch sehr einsam sein«, sagte sie, »wenn man in der Gegend niemanden
kennt …« Sie blickte aus dem Fenster und ließ den Gedanken in
der Luft hängen.
»Vielleicht sollten wir uns mal auf eine Tasse Tee treffen«,
bot Sylvia an. »Lassen
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