Kaltes Gift
und sie sei zu ihr gezogen,
um sie während ihrer letzten Tage zu pflegen. Das war ein kalkuliertes
Risiko, und Sylvia fragte auch wirklich nach dem Namen der Schwester,
doch Daisy erklärte, ihre Schwester sei schon seit Jahren behindert
gewesen und hätte kaum jemals das Haus verlassen. Sylvia schien sich
mit dieser Erklärung zufriedenzugeben.
Sylvia bestand darauf, Kaffee und Kuchen zu bezahlen. Sie
benutzte dazu eine Kreditkarte, was Daisy unermesslich freute. Denn es
bedeutete, dass sie solvent war. Es bedeutete, dass sie eine noch
attraktivere Kandidatin war, als Daisy zunächst vermutet hatte. Sie
verabschiedeten sich freundschaftlich, nachdem sie ihre Adressen
ausgetauscht hatten und nachdem Sylvia Daisy für den Nachmittag des
übernächsten Tages zu sich zum Tee eingeladen hatte.
Im Hotel setzte sie sich an den Schreibtisch am Fenster. Dann
zog sie den Papierstreifen mit der Kreditkartenrechnung aus der Tasche,
den sie so geschickt aus Sylvias Handtasche genommen hatte, als Sylvia
die Toilette aufsuchte, kurz bevor sie gingen.
Sie nahm ein leeres Blatt Papier und kopierte Sylvias
Unterschrift wieder und wieder, zuerst langsam, dann immer schneller,
bis sie sie perfekt nachahmen konnte.
An diesem Abend war es Daisy nach Feiern zumute. Statt im
Hotel zu essen, ging sie aus, wanderte durch die Stadt und fand ein
kleines Restaurant, das einheimische Fische und Meeresfrüchte anbot.
Daisy aß Scampis und Pommes frites und genoss es von Herzen. Noch mehr
genoss sie die Tatsache, dass sie nicht länger die Leute um sich herum
beobachten musste, für den Fall, dass ein lohnendes Objekt auftauchte.
Sie hatte ihr Objekt gefunden. Jetzt brauchte sie nur noch
weiterzumachen wie gehabt.
Am nächsten Morgen erklärte sie dem Empfangsportier des
Hotels, dass sie am Ende der Woche ausziehen werde. Den Rest des Tages
klapperte sie verschiedene Second-hand-Läden entlang der Hauptstraße
ab, arrangierte die Zulieferung von Möbelstücken und kaufte allerlei
Nippsachen, alte Bücher, Besteck, Platten, Teller und Tassen, die sie
in einem Einkaufsroller, den sie für fünf Pfund in einem
Wohltätigkeitsladen erstanden hatte, per Bus zu ihrer neuen Adresse
beförderte.
Als es Abend wurde, war Daisy hungrig, doch statt nach etwas
Essbarem Ausschau zu halten, wandten sich ihre Schritte wie von selbst
erneut dem Jachthafen zu. Irgendwie hatte die Stille des Wassers sie am
Vortag so beruhigt, und sie wollte sich dieses Gefühl erneut
verschaffen.
Sie brauchte nur wenige Minuten, die Straße wiederzufinden,
sie entlangzugehen, bis sie auf den Erdwall und die Eingangspforte zum
Jachtclub stieß. Langsam stieg sie die flachen Betonstufen hinauf, und
die Anstrengung setzte ihr mehr zu als am Tag zuvor. Oben hob sie den
Blick, um ihn über die weite Wasserfläche gleiten zu lassen.
Sie war nicht da. Stattdessen sah sich Daisy einer gewellten
Riesenfläche grünlich grauen Schlicks gegenüber. Sie stieg die Stufen
auf der anderen Seite des Dammes hinunter und versuchte zu begreifen,
was da passiert war. Hatte die Ebbe das Wasser ablaufen lassen? Die
Veränderung schien einfach zu dramatisch, um sich in so kurzer Zeit
ereignet zu haben, doch das war wohl die einzige Erklärung.
Die Boote, die gestern noch so friedlich im Wasser geschwommen
waren, lagen jetzt wie betrunken auf dem Schlick, die Masten in
verrückten Winkeln geneigt. Möwen stelzten dazwischen hindurch und
pickten an der schlammigen Oberfläche herum. Und Daisy roch plötzlich
einen so ekelhaften Fischgestank, dass sie unwillkürlich die Nase
rümpfte. Sie trat an den Rand der Kaimauer und blickte hinab in den
Schlick. Die Sonne hatte ihn teilweise zu einer harten Kruste gebacken,
durchzogen von Rissen, in denen eine unerfreuliche Feuchtigkeit
schimmerte. Rostige Dosen, Flaschen, Röhren und nicht identifizierbare
Gegenstände mit scharfen Kanten ragten aus dem Schlick hervor, als
seien sie Teile von etwas Größerem, dort unten Begrabenen, das sich
mühte, sich wieder an Land zu hieven. Kleine Insekten schwirrten über
die feuchte Fläche und suchten nach einem Platz, wo sie ihre Eier
ablegen konnten. Es war unglaublich, dass etwas so Hässliches durch
etwas so Schönes hatte verborgen werden können; dass etwas, das so
ekelhaft aussah und roch, unter der reinen, glitzernden Wasserfläche
hatte lauern können.
Daisy wandte sich zum Gehen. Sie fühlte sich beschmutzt. Sie
würde darauf achten, dass sie nie wieder zum Jachthafen kam, außer bei
Flut.
In dieser
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