Kaltes Gift
viel
unterwegs, und wir reden kaum miteinander. Der Mann auf der anderen
Seite ist Busfahrer. Ein sehr ruhiger Mensch.«
»Und was ist mit den anderen? Auf der anderen Seite der
Straße?«
»Ziemlich viele von denen sind während der letzten paar Jahre
neu dazugekommen. Das geschieht heutzutage ja überall. Früher war es
doch so, dass die Menschen bei den Nachbarn ein und aus gingen, ihre
Hilfe anboten, miteinander Tee getrunken haben, sich Zucker oder Milch
geborgt haben. Jetzt bleiben alle streng für sich. Es ist eine Schande.«
»Das stimmt«, bekräftigte Daisy. »Jeder Mensch braucht
Freunde. Sonst kann das Leben so furchtbar einsam sein.«
Sie sprachen eine Weile über die Veränderungen, die sie
während ihres Lebens miterlebt hatten, und dass die Leute sich heute
viel weniger umeinander kümmerten als noch vor zwanzig, dreißig Jahren.
Die Natur der Gesellschaft hatte sich völlig verändert, und sie fühlten
sich im Stich gelassen. Ein Teil der Vergangenheit.
Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu. Daisy erwähnte
versuchsweise ihre Krampfadern, die ihr das Gehen gelegentlich so
schwer machten.
»Ich kenne das«, sagte Sylvia. »Ich habe vor zehn Jahren eine
neue Hüfte eingesetzt bekommen, und die andere Hüfte war ein Jahr
später dran. Und ich schwöre, die Chirurgen haben eine eingesetzt, die
kürzer ist als die andere – aber die hören mir ja nicht zu.
›Ich bin doch schließlich diejenige, die damit herumlaufen muss‹, hab
ich ihnen gesagt, ›und an manchen Tagen habe ich das Gefühl, ich laufe
im Kreis‹, aber die wollten davon nichts hören. Haben gesagt, das sei
unmöglich.« Ihr Gesicht fiel in sich zusammen. »Manchmal kann ich
nachts mit diesen Hüften einfach keine bequeme Lage finden. Ich glaube,
ich habe keine Nacht mehr ordentlich geschlafen, seit sie mir die
Dinger eingesetzt haben.«
»Dagegen sollten Sie was einnehmen«, schlug Daisy vor und
witterte ein Schlupfloch, wie eine Katze zuweilen eine Maus wittert,
ohne sie bereits zu sehen.
»Oh«, sagte Sylvia, »der Gedanke an Schlaftabletten behagt mir
überhaupt nicht.«
»Ich dachte mehr an etwas Pflanzliches«, meinte Daisy
beiläufig. »Einen Kräutertee vielleicht. Ich könnte Ihnen einen
zusammenstellen. Wenn Sie möchten.«
»Oh Daisy«, sagte Sylvia dankbar, »Sie erschlagen einen ja
förmlich mit Ihrer Freundlichkeit.«
10
E s gab ein Gedicht, das Mark Lapslie einmal
gelesen hatte, als er im Internet nach den Erfahrungen anderer Menschen
mit Synästhesie gesucht hatte. Es stand auf einer Website, die mit
einigem Stolz hervorhob, dass es viele Künstler, Dichter und Musiker
gab, die an Synästhesie litten, wenngleich dann eingeräumt wurde, dass
gerade sie wohl am ehesten ihre Symptome bemerkt und daraus sogar
Vorteile gezogen hatten. Das Gedicht stammte von einem französischen
Dichter des 19. Jahrhunderts namens Baudelaire, und es war in Lapslies
Gedächtnis haftengeblieben. Es beschrieb mit einer Handvoll von Worten
etwas, von dem er wünschte, er könne es auch in seinem eigenen Leben
erreichen – ein Gespür für die Schönheit und Majestät, die die
Synästhesie anscheinend vermitteln konnte.
Denn es gibt Düfte, frisch wie
Kinderwangen,
süß wie Oboen, grün wie junges Laub,
verderbte Düfte, üppige, voll Prangen,
wie Weihrauch, Ambra, die zu uns im Staub
den Atemzug des Unbegrenzten bringen,
und unsrer Seele höchste Wonnen singen.
Das Gedicht fiel ihm während der langen
Fahrt – unter einem grauen, frühmorgendlichen
Himmel – von seinem Häuschen in Saffron Walden zu dem
Krankenhaus in der Nähe von Braintree wieder ein, wo er gelegentlich
von einem Neurologen untersucht wurde. Den Atemzug des
Unbegrenzten – der Seele höchste Wonnen … Wenn
das doch auch für ihn so wahr und wirklich wäre wie anscheinend für
Baudelaire.
Allerdings war Baudelaire ein syphilitischer Opiumsüchtiger
mit Alkoholproblemen gewesen, und so fühlte sich Lapslie berechtigt,
seine Schwelgereien nicht allzu ernst zu nehmen.
Er parkte seinen Wagen in der Nähe des Krankenhauses und ging
durch den Haupteingang. Statt eines Anzuges hatte er Kakihosen, ein
einfaches Hemd und ein schweres Leinenjackett gewählt. Er hatte sich
für diesen Arzttermin einen Tag freigenommen, um sich außerdem später
mit einem alten Freund zu treffen.
Die Eingangshalle war hoch und luftig, von Kübeln mit Farnen
gesäumt, mit sanft plätschernden Springbrunnen in der Mitte und
Steinbänken ringsherum. Doch nachdem er durch eine
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