Kaltes Gift
Nacht träumte Daisy wieder von dem rothaarigen
Mädchen. Sie hatte unruhig geschlafen, seit sie zu Bett gegangen war,
fernes elektrisches Rasseln von Autoscootern auf dem Kai oder der Lärm
von Teenagern, die singend und schreiend die Strandpromenade
entlangzogen, hatte sie immer wieder hochschrecken lassen. Als die Zeit
verstrich, als die Kneipen und Clubs ihre Türen schlossen und der Kai
sich leerte, wurde es auch in ihrem Zimmer stiller, und sie sank tiefer
in die Bewusstlosigkeit, wie eine rostige Blechdose in den Schlamm.
Gegen Mitternacht nahm sie nichts mehr wahr.
Im Traum befand sich Daisy in einem Esszimmer, das von einem
großen Mahagonitisch beherrscht wurde. Vor jedem der Stühle lagen Sets:
Korkmatten mit laminierten Bildern von Pflanzen auf der Oberseite. Der
Raum selbst war dunkel, abgesehen von den Kandelabern auf dem Tisch,
doch Daisy meinte in der Schummrigkeit Vorhänge zu entdecken –
weiche, samtartige Vorhänge, die in Schwüngen und Raffungen bis auf den
Boden fielen und alle Geräusche dämpften.
Daisy saß an einer Stirnseite des Tisches. Das Bild auf ihrem
Platzdeckchen zeigte einen Rhododendronstrauch. Als sie im
Zeitlupentempo des Traums, wie unter Wasser, den Kopf nach links
wandte, sah sie, dass auf dem Platzdeckchen dort ein Azaleenbusch
abgebildet war, und auf dem an ihrer rechten Seite ein Berglorbeer.
»Hast du gewusst«, fragte eine mädchenhafte Stimme vom anderen
Ende des Tischs, »dass der Honig von Bienen, die Pollen von
Rhododendron gesammelt haben, tatsächlich giftig ist? Ich glaube, das
habe ich in einem Buch gelesen.«
Daisy blickte auf. Ihr gegenüber saß ein Mädchen. Sie war etwa
acht Jahre alt, hatte rotes Haar und trug ein geblümtes Kleid. In dem
schweren Mahagonisessel, in dem sie kauerte, wirkte sie zwergenhaft.
»Wie heißt du?«, fragte Daisy.
»Ich weiß es nicht mehr«, erwiderte das Mädchen. »Und du?«
Daisy schüttelte den Kopf. »Ich kann mich auch nicht erinnern.
Wo sind wir hier?«
»An meinem geheimen Ort. Gefällt er dir?«
»Ich weiß nicht recht, Liebes. Ich kann ihn gar nicht richtig
sehen. Was machen wir hier?«
»Wir veranstalten eine Teeparty. Wir veranstalten hier immer
Teepartys.«
Ohne sonderliche Überraschung sah Daisy jetzt auf dem Set vor
dem kleinen Mädchen eine Teekanne und zwei Tassen auf Untertassen
stehen: kleine Tassen, kleine Untertassen, eher für Puppenstuben
geeignet als für Menschen. Mit übertriebener Vorsicht füllte das
Mädchen die beiden Tassen mit einer dampfenden braunen Flüssigkeit,
glitt dann von ihrem Stuhl herunter, fasste nach einem Tellerchen mit
der Tasse darauf und trug es um den Tisch herum dorthin, wo Daisy saß.
»Er ist wunderbar«, sagte sie, als sie die Tasse niedersetzte.
»Ich hab ihn selbst gemacht.«
»Und woraus hast du ihn gemacht, Liebes?«, fragte Daisy, als
das Mädchen zu ihrem Stuhl zurückkehrte.
»Aus dies und das, ich weiß nicht, was«, antwortete das
Mädchen. »So wie ich das immer mache. Du musst ihn trinken.«
»Ich bin gar nicht durstig.«
»Aber du musst.« Es war weniger ein Befehl als eine
Feststellung.
Daisy streckte unwillkürlich die Hand nach der Tasse aus. Sie
wollte sie zurückreißen, aber ihre Finger legten sich um das warme
Porzellan, und sie hob sie an den Mund. »Ich bin wirklich gar
nicht …«
»Aber du musst. Das ist ein Spiel.«
Daisy spürte, wie der Dampf an ihrer Oberlippe zu Feuchtigkeit
wurde. Sie roch etwas Bitteres, Unangenehmes. »Was ist das?«
»Weißt du das nicht?« Das Mädchen grinste einfältig.
Daisy spürte die Tasse in ihren Fingern, spürte die zunehmende
Hitze, die ihr durch die Haut fuhr. »Es riecht so … irgendwie
bekannt.«
»Das ist früher in deinem Garten gewachsen. Überall in deinem
Garten ist es gewachsen. Ich hab aus den Beeren ein Getränk gemacht.
Weißt du nicht mehr? Der Gärtner hat es ›Belladonna‹ genannt.«
Die Tasse kippte, und die Flüssigkeit rann in Daisys Mund. Sie
versuchte, sie auszuspucken, doch was immer ihre Hand verhext hatte,
ließ sie jetzt schlucken und noch einmal schlucken.
»Kaninchen können es ruhig fressen«, erklärte das Mädchen
altklug, »denen macht es nichts aus. Aber wenn du die Kaninchen isst,
dann kannst du vergiftet werden.«
Daisy spürte ein Brennen im Mund, obgleich der Tee gar nicht
so heiß gewesen war. Auf ihrer Zunge und ihren Lippen bildeten sich
Blasen, und ihre Stirn war plötzlich feucht von Schweiß.
»Anscheinend haben Hexen immer Belladonna genommen,
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