Kaltes Gift
hören. Nein, nicht alle Stimmen
rufen einen Geschmack hervor. Ich weiß selbst nicht, ob es mit der
Tonhöhe oder dem Timbre oder sonst was zu tun hat. Bei manchen Stimmen
passiert es eben, aber bei Ihrer nicht. Tut mir leid.«
»Sonst noch was? Irgendwelche anderen Vorteile?«
Lapslie überlegte kurz. »Merkwürdigerweise«, sagte er dann,
»kann ich gewöhnlich merken, wann Leute mich anlügen. Das ist dann so
ein ungewöhnlicher Geschmack. Trocken, würzig, aber nicht in der Art
wie Curry. Eher wie Muskat. Das hat mir schon bei der Aufklärung von
Verbrechen geholfen.« Auf Considines hochgezogene Augenbrauen hin fügte
er hinzu: »Ich bin bei der Polizei.«
Considine runzelte die Stirn. »Ich kann ja gerade noch
verstehen, dass Geräusche irgendwo im Gehirn falsch umgedeutet werden
und zu Geschmacksempfindungen werden, aber Lügen sind doch keine Geräusche, dabei geht es doch um den Inhalt, die Bedeutung dessen, was
gesagt wird. Das überfordert mich ein bisschen.«
»Ich erkläre mir das so«, sagte Lapslie, »wenn Menschen lügen,
dann liegt ein gewisser Stress in ihrer Stimme, der die Art, wie sie
sonst klingt, kaum merklich verändert. Irgendwie reagiere ich wohl auf
diesen Stress und schmecke ihn.«
»Ich vermute, man hat Sie schon aufgefordert, an
Forschungsprojekten teilzunehmen? Überall im Land gibt es jetzt
Forschungslabors, die sich für Synästhesie interessieren.«
»Ja, man hat mich schon aufgefordert, und gelegentlich habe
ich auch an Experimenten teilgenommen, aber für gewöhnlich läuft es
darauf hinaus, dass ich bloß eine hochgejubelte Laborratte bin. Ich
will mein Problem verstehen und beherrschen, und das Problem ist, dass
die meisten Forscher etwas anderes wollen. Die wollen die Synästhesie
als ein Fenster in den Mechanismus des Gehirns benutzen.«
Considine nickte. »Das kann ich Ihnen nachfühlen. Es gibt
allerdings psychiatrische Methoden, die Sie ausprobieren könnten, um
die Flut der Empfindungen, die Sie haben, besser zu kontrollieren.
Kognitive Verhaltenstherapie zum Beispiel könnte Ihnen helfen, die
Verbindung zwischen den Stimuli – also bestimmten
Geräuschen – und Ihrer üblichen Reaktion darauf abzuschwächen.
Die Geschmacksempfindungen könnten unverändert bleiben, aber Ihre
Reaktionen könnten sich verändern. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen
einen Therapeuten empfehlen.«
Therapie. Lapslie schüttelte den Kopf. Das war nichts für ihn.
»Danke«, sagte er, »aber ich glaube, das Problem sitzt tiefer
als das. Die Art des Denkens zu verändern, das würde nichts bringen.«
»Dann werden Sie einfach damit leben müssen.«
»Vielen Dank für Ihre Zeit.«
»Kommen Sie in einem Jahr wieder«, sagte Dr. Considine, als
Lapslie aufstand, um zu gehen. »Wer weiß? Vielleicht wissen wir dann
wirklich, was Synästhesie ist und wie man sie unterdrücken kann.«
»Wer weiß?«, sagte Lapslie im Gehen.
Es hatte geregnet, während er im Krankenhaus war. Wasserlachen
sammelten sich im Rinnstein und in den Dellen der Fahrbahn. Als er vom
Krankenhausgelände fuhr, bog er in Richtung der A120 ab, doch eine
kleine Stimme in seinem Hinterkopf sagte ihm, dass er hier gar nicht
weit von dem Wald außerhalb von Faulkbourne entfernt war, wo man Violet
Chambers Leiche gefunden hatte. Abrupt bog er in einem Kreisverkehr
rechts statt links ab und tippte rasch eine neue Zieleingabe in sein
Navigationssystem. Er wusste selbst nicht, wieso, doch er wollte sich
die Stelle noch einmal anschauen. Sich bei Tag einen Eindruck davon
verschaffen anstatt frühmorgens. Wollte den Fundort sehen, wenn sonst
niemand dort war, statt dass er von Polizisten und Tatortspezialisten
wimmelte.
Er beschleunigte auf der Straße, ließ seine Gedanken schweifen
und versuchte zu ergründen, weshalb er das, was von seinem freien Tag
noch übrig war, damit zubringen wollte, in einem Mordfall zu ermitteln.
Es war so etwas Unbefriedigendes an diesem Verbrechen. Etwas, das vom
Üblichen abwich. Er hatte im Laufe der Jahre so viele Morde aufgeklärt,
dass er dagegen abgehärtet war – gegen die Anblicke und
Gerüche, gegen Gründe und logische Erklärungen –, aber dieser
Fall passte irgendwie nicht in die üblichen Raster. Er war in sich zu
stilisiert, zu durchorganisiert. Vergiften war kein Verbrechen aus
Leidenschaft, sondern eins der minutiösen Planung. Doch dann dieser
Schlag auf den Kopf und das Entsorgen des Giftopfers im Wald,
anscheinend noch am Leben. Das deutete auf Eile hin, auf einen
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