Kaltes Gift
wenn sie
nachts zusammen getanzt haben. Dann dachten sie, sie könnten fliegen.
Meine Mami sagt, Hexen gibt es gar nicht wirklich, aber ich weiß, es
gibt sie doch.«
Daisys Hände setzten die Tasse auf den Tisch zurück und
falteten sich ordentlich im Schoß, aber ihre Finger zitterten, und ihre
Handflächen waren feucht.
»Römische Frauen haben Belladonna bei ihrem Makeup benutzt,
damit ihre Haut richtig weiß aussah.« Das Mädchen beugte sich in ihrem
Stuhl vor, die Arme verschränkt, und beobachtete Daisy scharf. »Deine Haut sieht jetzt auch richtig weiß aus, aber ich glaube, das
ist kein Make-up. Ich glaube, da wirkt schon die Belladonna.«
Ihre Hände waren völlig taub, und der Raum um sie her
verschwamm und war nebelweiß. Sie erkannte gerade noch die Umrisse des
Mädchens, doch der Nebel verwandelte ihre feinen Züge in einen
Totenkopf, einen rothaarigen Totenkopf, der Daisy wie irrsinnig
angrinste.
»Na, wie fühlt sich das an?«, schrie das Mädchen. »Wie fühlt
sich das an?«
Daisy fuhr senkrecht im Bett hoch. Einen Moment lang spürte
sie förmlich noch die Blasen im Mund und das anschwellende Brennen in
ihrer Kehle, doch die Laken unter ihren verkrampften Händen waren kühl,
und draußen vor dem Fenster konnte sie Wellen hören, die auf den Strand
schlugen. Es war nur ein Traum gewesen. Es war nur ein böser Traum
gewesen.
Am nächsten Morgen brauchte Daisy länger als
gewöhnlich, um sich zu waschen und anzukleiden. Sie fühlte sich alt und
müde. Irgendwas an dieser Stadt zehrte an ihrer Kraft. Es war, als habe
ihre Ankunft hier alte Geister geweckt, und sie musste versuchen, sie
wieder zur Ruhe zu bringen, wenn sie bei Sylvia irgendwelche
Fortschritte machen wollte.
Den Vormittag brachte sie damit zu, im Hotel und in der Stadt
herumzutrödeln, und nach dem Lunch nahm sie ein Taxi und fuhr zu
Sylvias Haus. Auf einem Stadtplan, den sie am Informationskiosk
bekommen hatte und der sich als immer nützlicher erwies, hatte sie
bereits festgestellt, wo es lag, und sie wusste, dass sie einen Bus
nehmen konnte, der sie zehn Gehminuten entfernt absetzte, aber sie
wollte frisch dort ankommen. Und außerdem machte es so den Eindruck,
als sei sie es gewohnt, einigermaßen komfortabel zu reisen, was Sylvia
gewiss zu schätzen wusste.
Das Haus war hoch gelegen, nahe dem höchsten Punkt der
Landzunge, die sich nördlich der Stadt ins Meer hinausschob, und es
gehörte zu einer Siedlung, die nach Daisys Einschätzung in den
dreißiger Jahren gebaut worden war. Es war wohlproportioniert und
weitläufig, aus rotem Backstein gebaut, mit einer Garage und einem
kleinen runden Fenster über der Haustür, und stand ein wenig entfernt
von seinen Nachbarn und von der Straße zurückgesetzt.
Als Daisy ausstieg und den Fahrer bezahlte, konnte sie kaum
den Blick davon losreißen. Von allen Häusern, in denen sie je gelebt
hatte – oder hatte leben wollen –, war dies das
schönste. Sie würde es genießen, hier zu wohnen, nachdem sie Sylvia aus
dem Weg geräumt hatte.
Sylvia wartete bereits an der Haustür. »Ein Taxi«, sagte sie.
»Wie extravagant.«
»Den Bus hätte ich nicht ertragen«, erwiderte Daisy und folgte
Sylvia ins Haus. »Wie schön haben Sie es hier.«
»Möchten Sie einen Rundgang machen?«
Und Sylvia führte Daisy voller Stolz herum. Das Haus war
makellos gehalten, und offensichtlich gab es Zimmer, die Sylvia gar
nicht mehr betrat. Die Küche war riesig, mit holzgetäfelten Schränken,
und aus Sylvias Schlafzimmer hatte man zwischen den gegenüberliegenden
Häusern hindurch Aussicht auf das Meer. Es war einfach perfekt.
Nun ja, nicht ganz perfekt. Nichts von dem Inventar und den
Ausstattungsgegenständen würde mehr als höchstens ein paar tausend
Pfund bringen. Das Haus selbst allerdings würde ein ganz schönes Bündel
wert sein, wenn Daisy es eines Tages satthatte.
Das Wetter war warm genug, dass sie ihren Tee hinten im Garten
trinken konnten. Sylvia hielt ihn wunderbar in Ordnung, und sie
brachten einige Zeit damit zu, sich über die verschiedenen Blumen zu
unterhalten. Daisy ließ sich besonders über die gepflegte Ligusterhecke
aus und über die Winden, die sich hinten am Haus hochrankten.
Sie saßen in ihren Stühlen im Garten hinter dem Haus, und
Daisy sagte aufs Geratewohl: »Es scheint so wunderbar still hier. Sie
müssen gute Nachbarn haben.«
»Von denen sehe ich wirklich nicht viel«, bestätigte Sylvia.
»Dort auf der einen Seite wohnt eine Familie. Die sind sehr
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