Kaltes Gift
Stunde, und während dieser Zeit schaute
er aus dem Fenster auf vorübergleitende Felder und Fabriken und ließ
seine Gedanken schweifen – Ohrstöpsel blendeten die Stimmen
derer aus, die sich ringsherum unterhielten, und bescherten ihm eine
gesegnete Stille. Jedes Mal, wenn er sich dabei ertappte, dass seine
Gedanken sich Sonia und den Kindern näherten, hielt er inne und dachte
bewusst an etwas anderes. Der Schmerz dieser Wunde pochte schon zur
Genüge, es gab keinen Grund, noch weiter darin herumzustochern.
Vom Zug aus rief er DCS Rouses Büro an. Der Superintendent war
nicht erreichbar, also hinterließ er eine Nachricht bei seiner
Sekretärin, mit der Bitte um zusätzliche Hilfskräfte, um Emma Bradbury
bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Viel Hoffnung hatte er
nicht – die hohen Tiere schienen nicht geneigt, weitere Hilfe
zur Verfügung zu stellen, ungeachtet des Interesses, das DCS Rouse an
diesem Fall zeigte. Aber versuchen musste er es.
In Liverpool Street stieg er aus und nahm die U-Bahn, um über
den Fluss nach Rotherhide zu kommen. Hier taugten die Ohrstöpsel
weniger dazu, das unentwegte Rattern und Keuchen des Zuges durch die
Tunnel abzuschotten, und er musste dauernd schlucken, um den
Gorgonzolageschmack loszuwerden. Schließlich schob er sich eine
Pfefferminzpastille in den Mund, um ihn wenigstens mit etwas anderem zu
überdecken.
In Rotherhide verließ er die Station und ging durch
kopfsteingepflasterte Gassen zu einem altbekannten Pub am Ufer der
Themse. ›The Golden Hind‹ war hoch und schmal und neigte sich ein wenig
zur Seite, aus schwarz gewordenem Fachwerk und weiß verputztem
Backstein erbaut. Auf den ersten Blick sah es aus wie jede der tausend
Kneipen im Pseudo-Tudorstil überall in England, bis einem klarwurde,
dass diese hier tatsächlich aus der Tudorzeit stammte. Es war zwar
seitdem mancherlei hinzugefügt oder entfernt worden, doch das Haus
hatte immer noch das Flair von Dauerhaftigkeit, ganz im Gegensatz zu
den umliegenden Gebäuden.
Er trat durch eine schmale Tür ein und blickte sich um. Das
Innere war wie die Kollision zwischen drei oder vier Räumen
verschiedener Größe auf verschiedenen Ebenen. Dom McGinley saß in einer
Ecke, ein halbleeres Glas Guinness vor sich. Er hob Lapslie zum Gruß
das Glas entgegen und trank einen Schluck.
»Ein Guinness und ein Lager«, sagte Lapslie zu dem Mann an der
Bar. Als er sich mit den beiden Gläsern umdrehte, strebte McGinley
gerade von der Tür fort auf einen kleinen Ausgang hinten in der
Gaststube zu. Lapslie folgte ihm und fand sich auf einem kurzen Pier
wieder, der etwa sieben Meter in die Themse hineinragte. Ein paar
hölzerne Bänke und Tische standen darauf. Außer ihnen war niemand dort.
McGinley ließ sich schwer auf einen Sitz fallen. Lapslie
stellte die Gläser auf dem Tisch davor ab, setzte sich auf die harte
Holzbank und nahm einen Schluck von seinem Lager. Es war ziemlich
geschmacksfrei, und genau deshalb mochte er es.
»Den Dave Finnistaire, den haben sie hier unter uns an die
Pfähle gefesselt gefunden«, sagte McGinley schließlich. Lapslies Mund
prickelte plötzlich von scharfen Senfgurken, Gewürzzwiebeln und
Essiggemüse, und schnell trank er einen weiteren Schluck Bier, um den
Geschmack zu überlagern. »Vor fünfzehn Jahren. War nach Ihrer Zeit. An
normalen Tagen steigt die Flut nicht besonders hoch. Die schätzen, er
ist als Warnung da festgebunden worden. Das Problem war bloß, es war
'ne Sturmflut, und er ist ertrunken. Die schätzen, der hat vielleicht
schon 'ne Woche da unten gehangen, ehe es passiert ist.«
»Hat er denn nicht geschrien?«
McGinley schüttelte den Kopf. »Hat er wohl auch versucht, aber
nach dem, was die mit seiner Zunge angestellt haben, hat er wohl nicht
viel Glück damit gehabt. Na denn, prost.«
»Prost.«
Lapslie blickte in die sinkende Dämmerung. Die Sonne ging
unter, irgendwo über dem Zentrum von London, und der Himmel war eine
glanzvolle Kulisse übereinanderliegender Häuserreihen, getaucht in
Scharlachrot, Orange und Braun. Das Licht brach sich in einem kleinen
goldenen Knopf, den McGinley im linken Ohrläppchen trug.
Einen Moment lang dachte Lapslie an andere
Synästhesiepatienten, bei denen die Sinne auf andere Weise falsch
vernetzt waren als bei ihm, so dass sie Farben sahen, wo er Geschmack
spürte. Erlebten sie etwas in dieser Art? Waren das ›unsrer
Seele höchste Wonnen‹ aus dem Gedicht?
»Ich war erstaunt, als Sie angerufen haben«, sagte
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