Kaltes Gift
Storchschnabel als Bodendecker, und auf Sylvias Gesicht lag ein
Ausdruck, der Daisy überhaupt nicht gefiel. Sie lächelte. Mehr als das,
sie strahlte.
»Oh Daisy«, sagte sie aufgeregt, als Daisy herankam, »das ist
Kenneth. Er hat früher mit meinem Mann zusammengearbeitet, vor Jahren.
Und hier begegnen wir uns zufällig – ist das zu glauben?«
»Was für ein netter Zufall«, sagte Daisy fröhlich, als Kenneth
ihr die Hand gab. Doch sie konnte nicht umhin, zu bemerken, dass er
seinen Blick nur flüchtig von Sylvias Gesicht lösen konnte. »Meine
Liebe, wir sollten jetzt aber wirklich gehen, wenn wir beizeiten wieder
zurück sein wollen.«
»Ich denke, vorher sollten wir noch einen Tee trinken.« Sylvia
streckte die Hand aus und berührte flüchtig Kenneths Jackenärmel.
»Kenneth und ich haben uns so viel zu erzählen. Wir haben uns ja seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Widerstrebend ließ Daisy sich zum Café des Gartencenters
mitziehen, wo sie dann etwas ertragen musste, was ihr bisweilen vorkam
wie eine lange zurückgehaltene, höchst artige Werbung. Kenneth war
faszinierend, kein Zweifel, und Sylvia war entsprechend fasziniert. Bei
Tee und Kuchen, den Kenneth bezahlte, merkte Daisy, wie ihre Pläne zu
bröckeln anfingen. Als die letzte Tasse Tee getrunken, der letzte
Löffel Schlagsahne auf die letzten Kuchenbröckchen verteilt war, hatten
Kenneth und Sylvia verabredet, nächste Woche zusammen ins Theater zu
gehen. Natürlich wurde Daisy auch eingeladen, und sie nahm an, um nicht
kleinlich zu wirken – vielleicht ließ sich an der Situation ja
noch etwas retten –, doch im Grunde ihres Herzens wusste sie,
dass Sylvia jetzt für sie verloren war. Sie hatte jetzt noch einen
Freund, und dadurch würde es umso schwieriger werden, sie von allem
Weltgeschehen abzuschotten und von Daisy abhängig zu machen. Vielleicht
sogar unmöglich.
Einerseits verlockte es sie, Sylvia und Kenneth einen
wundervollen Rhabarberkuchen zu backen, um zu zeigen, dass sie keinen
Groll hegte, andererseits hatte es keinen Sinn, ihre Enttäuschung in
langfristige Pläne umzumünzen. Nein, sie würde einfach von vorn
anfangen müssen.
Nachdem Tee und Kuchen verzehrt waren, trennten sich die drei:
Kenneth blieb, um noch ein Mittel gegen Larven aufzutreiben, Sylvia und
Daisy setzten sich in den Fiat und fuhren zurück nach Leyston-by-Naze.
Diese Fahrt war weitaus anstrengender als die Herfahrt. Einmal blickte
Sylvia Daisy von der Seite an und fragte: »Geht's Ihnen nicht gut? Sie
sind so still.«
»Ich bin bloß müde«, erwiderte Daisy, und sie wusste nicht
recht, ob sie damit den heutigen Tag meinte oder ihr ganzes Leben.
Sylvia setzte Daisy nahe am Bahnhof ab, denn nach einem
weiteren Schweigen hatte Daisy gesagt, sie wolle noch etwas einkaufen.
Aus Gründen, die sie sich selbst nicht erklären konnte, hatte Daisy
bisher gezögert, Sylvia sehen zu lassen, wo sie wohnte. Jetzt war sie
froh über ihre Vorsicht. Wenn sie sich entschließen musste, die Brücken
hinter sich abzubrechen und neu zu beginnen, dann war es nur gut, wenn
zwischen einem ehemaligen und einem zukünftigen potenziellen Opfer
keinerlei Verbindung bestand – selbst wenn diese Verbindung
nur Daisys gemietete Unterkunft war.
Als der kleine Fiat davonfuhr, blickte Daisy ihm mit
gemischten Gefühlen nach. Einerseits war da der schmerzliche Verlust
des Hauses, des Wagens und der wundervollen Rente. Andererseits jedoch
war Sylvia sehr willensstark. Sie zu dominieren hätte viel Zeit und
Energie gekostet, und Daisy hatte das Gefühl, dass beides bei ihr
zunehmend knapp wurde.
Irgendetwas trieb sie voran, zwang sie, immer kürzere Pausen
zwischen ihren Morden einzulegen. Sylvia würde sich natürlich wundern,
wo ihre neue Freundin abgeblieben war, aber sie würde darüber
hinwegkommen – mit Kenneths Hilfe. Und sie würde nie erfahren,
welch glückhafte Begnadigung ihr zuteilgeworden war.
Statt zur Hauptstraße hinunterzugehen, merkte Daisy plötzlich,
dass ihre Füße sie in eine ganz andere Richtung trugen – zur
anderen Seite der Mole hin, wo die Strandhütten am Hang in geradezu
militärisch ausgerichteten Reihen übereinanderstanden, auf den Strand
hinunterblickten und darauf warteten, sich in der Feriensaison wie
Blüten zu öffnen – Fensterläden und Türen weit aufzusperren,
um die Sonnenwärme hereinzulassen.
Von der Straße oberhalb der Hütten blickte Daisy hinunter auf
die buntgestrichenen Dächer – Rot, Blau, Grün und Gelb in
chaotischem
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