Kaltes Gift
Kulisse der dunstigen Straße: Ein einsamer Wagen, achtsam
dahinfahrend, darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Eine
Reifenpanne vielleicht, oder aus dem Kühler quellender Dampf. Der Wagen
hält unvermittelt an. Der Fahrer, eine Schattenfigur, steigt aus und
untersucht die Reifen, öffnet die Motorhaube, wo immer das Problem
liegt. Unbemerkt öffnet sich die hintere Tür, eine Gestalt kriecht
heraus und strebt auf die schützenden Bäume zu. Der Fahrer sieht sie
und folgt ihr durchs Farnkraut. Ein Ast wird gepackt und fährt jählings
nieder – einmal, zweimal. Der Fahrer geht zum Auto zurück und
ruft nach einigem Zaudern den Pannendienst an. Bevor der eintreffen
kann, nimmt der Fahrer eine Rolle Plastikfolie hinten aus dem Wagen,
wickelt die Leiche hinein und häuft Erde und Farnkraut darauf, so gut
es geht, um zu verhindern, dass sie entdeckt wird. Und dann wartet er,
bis der Pannendienst auftaucht.
Das war plausibel. Es war zwar nur eine Möglichkeit, aber eine
plausible. Und es lief auf die Frage hinaus: Welche Beweise konnte es
geben, die sie bestätigten oder ausschlossen?
Lapslie nahm sein Handy aus der Tasche und drückte die
Sprachwahltaste. »Emma Bradbury«, sagte er, und das Telefon
durchforstete seine Liste nach ihrer Nummer. Augenblicke später meldete
sie sich.
»Sir? Ich dachte, Sie hätten heute frei?«
»Stimmt. Aber ich hab mich gelangweilt. Emma, Sie müssen was
für mich tun. Ich bin hier am Fundort der Leiche. Und ich möchte, dass
Sie überprüfen, ob irgendwelche Notdienste oder Automechaniker zu einem
liegengebliebenen Auto hierhergerufen worden sind, sagen wir, in der
Zeitspanne vor neun bis elf Monaten. Fragen Sie auch bei der Polizei
nach: möglich, dass die Aufzeichnungen über irgendwelche Vorfälle
haben. Rufen Sie mich zurück, wenn Sie fündig geworden sind.«
»Mach ich. Aber was soll das denn …«
Er schnitt ihr abrupt das Wort ab, wollte nicht reden,
befürchtete irgendwie, wenn er seine Theorie erklärte – seine Hypothese –, dann würde das alles zu Staub zusammenfallen, und Emma würde
ihn auslachen. Er wollte lieber warten, bis sie mit handfesten
Nachweisen zurückrief, so oder so, ehe er ihr erzählte, was er dachte.
Und er beschloss, während des Wartens ein wenig im Wald spazieren zu
gehen.
Schwammiger Blättermulch gab unter seinen Füßen nach.
Ringsumher ertönte leises Knistern des Gestrüpps, das nach dem Regen
trocknete oder durch die hastige Betriebsamkeit eines Vogels oder eines
Fuchses im Unterholz. Doch der feuchte Blättergeruch, der vom Boden
aufstieg, überlagerte jeden anderen Geschmack, der sich sonst
vielleicht in Lapslies Mund bemerkbar gemacht hätte. Es gab keinerlei
Pfade oder Wege durch das Buschwerk, denen er hätte folgen können. Er
musste vorsichtig über umgefallene Bäume steigen und Weißdornbüsche
umgehen, um voranzukommen.
Schon bald konnte er weder die Straße noch seinen Wagen sehen.
Er hätte sich genauso gut in der Mitte des Waldes befinden können wie
an seinem Rand, und wenn er nicht aufpasste, konnte er leicht so
weiterwandern, bis er wirklich mittendrin war. Es
gab keine Möglichkeit, die Richtung zu bestimmen, und obwohl er sich
bemühte, sich die Umrisse der Bäume einzuprägen, fand er schließlich,
dass sie alle gleich aussahen.
Die Leute redeten immer davon, dass Städte ihre typischen
Charaktere hätten, und in seiner Zeit als Detective Sergeant in London
hatte er die behaglichen Exzesse der Hauptstadt
kennengelernt – eine lächerlich geschminkte alte Hure, die es
immer noch schaffte, Freier anzuziehen –, hier im Wald jedoch
herrschte ein andere Art von Persönlichkeit. Etwas Zeitloses, Dunkles.
Was immer es war, der Wald hatte den Mord an Violet Chambers gesehen,
und es hatte ihn kaltgelassen, so wie ihn die hundert, tausend,
Millionen Tode kaltgelassen hatten, deren Zeuge er im Laufe der
Millennien geworden war.
Lapslie kehrte um, verfolgte seinen Weg zurück, so gut es
ging. Dieser Baum dort am Rand einer Senke, die Wurzeln durch Stürme
oder Tiere freigelegt – er war sicher, er hatte ihn zuvor auf
seinem Hinweg gesehen. Die Kletterpflanze, die sich dort schmarotzend
um den Stamm einer Eiche wand – sicher, die erkannte er
wieder. Und nach zehn Minuten war er wieder bei seinem Wagen angelangt,
und es war, als sei der Wald ein Traum gewesen.
Sein Handy klingelte, als er zu seinem Wagen ging: Bruchs 1.
Violinkonzert und ein Schwall von Schokoladengeschmack.
»Sir? Emma hier. Ich hab
Weitere Kostenlose Bücher