Kaltes Gift
Frauen, die dazu
neigten, am Sonntagabend zur Kirche zu gehen, auch arm waren wie die
Kirchenmäuse – wenn das Wortspiel gestattet war. Schlimmer
noch, fast unausweichlich würde der Pfarrer sie bemerken und sie
ansprechen, und das Letzte, was sie wollte, war ein wohlmeinender
Kirchenmann auf ihrer Schwelle.
Es müsste in der Gegend eigentlich auch Kegelclubs geben,
überlegte Daisy. Sie war ziemlich sicher, dass sie während der Busfahrt
zu ihrer Wohnung Rasenbowling-Plätze gesehen hatte. Vielleicht sollte
sie da mitmachen?
Die hinter ihr stehende Abendsonne malte ihren Schatten auf
den Sand, und plötzlich wurde er von einem zweiten Schatten begleitet.
Misstrauisch wandte sie den Kopf. Da rannte ein kleines Bündel aus
Haaren und Zähnen an ihren Füßen vorbei zum Wasser, schreckte plötzlich
zurück und stürmte dann erneut bellend auf die Wellen zu.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals«, sagte eine Stimme hinter
ihr. »So ist er immer. Muss immer herumrasen, seinen eigenen Schatten
jagen. Ich hoffe, er hat Sie nicht erschreckt.«
Daisy drehte sich um. Die Frau hinter ihr trug ein verrücktes
Sammelsurium von Kleidungsstücken: Strickstulpen, einen weiten Rock,
eine Samtweste über einem Jeanshemd und über dem ganzen Ensemble einen
voluminösen Mantel. Ihr Haar, oder was davon unter einem formlosen Hut
heraushing, war ziemlich wüst, wurde aber von den Strahlen der Sonne,
die tief gegen den Horizont fielen, in Gold verwandelt. Ihr Gesicht,
zwar verschattet durch die hinter ihr stehende Sonne, war mehr knittrig
als faltig, und ihre Augen waren von verwaschenem Blau. Sie konnte zehn
Jahre jünger sein als Daisy, ebenso gut aber auch zehn Jahre älter. Es
war eines jener Gesichter, deren Alter man schwer einschätzen konnte.
Mit einer Hand umklammerte sie eine Plastiktasche, mit der anderen eine
Hundeleine.
»Ich sagte, ich hoffe, er hat Sie nicht erschreckt.«
»Mich kann man nicht erschrecken«, meinte Daisy und starrte
die Erscheinung an, die wie eine Antwort auf ihre Gebete dem Sand
entstiegen zu sein schien.
»Das ist gut«, sagte die Frau. »Ich heiße Eunice. Eunice
Coleman.«
»Daisy Wilson.«
»Und sind Sie zu Besuch in dieser geistig umnachteten Stadt,
oder haben Sie das Pech, hier zu wohnen?«
Daisy musste über die Unverblümtheit dieser Frau lächeln. »Ich
bin vor kurzem hergezogen.«
»Dann haben Sie mein aufrichtiges Beileid.«
Das kleine Bündel aus Fell und Zähnen, das vorhin
vorbeigeflitzt war, schoss plötzlich erneut mit halsbrecherischer
Geschwindigkeit über den Strand, verfolgte den Schatten einer der
Möwen, die über ihnen in der Luft hingen.
»Das ist Jasper«, erklärte Eunice, »genannt nach Jasper Johns,
dem Maler.«
»Ist der berühmt?«, fragte Daisy. »Hab noch nie von ihm
gehört.«
Die Frau blickte sie seltsam an. »Sie haben noch nie von
Jasper Johns gehört?«
»Nein.«
»Wollen Sie mir etwa sagen, Sie haben auch noch nie von
Jackson Pollock gehört?«
»Nein, nie.«
»Joan Miró?«
»Von der auch nicht.«
»Joan Miró war ein Er, keine Sie.« Eunice schüttelte grimmig
den Kopf. »Was ist bloß aus der Welt geworden.«
»Sind Sie auch Malerin?«, fragte Daisy und hatte das Gefühl,
hier in eine Konversation geraten zu sein, die ihrer Kontrolle entglitt.
»Ich betreibe eine Kunst- und Antiquitäten-Handlung«, sagte
Eunice, als ob das dasselbe sei. »Nicht dass die Leute hier sonderlich
an Kunst interessiert wären. Aber es bewahrt mich davor, meschugge zu
werden.«
»Welche Art Malerei und Kunstgegenstände haben Sie denn?«
Eunice zuckte die Achseln. »Gemälde, die ich mal hier, mal
dort aufgelesen habe, ein bisschen Keramik, ein paar Wandbehänge. Nicht
diese langweiligen gestickten Dinger; das ist keine Kunst, das ist
läppische Stichelei. Ich veranstalte auch Kurse, oder würde es vielmehr
tun, wenn irgendjemand interessiert genug wäre, vorbeizukommen. Samt
Kaffee und Kuchen. So allerlei jedenfalls. Ich habe eine umgebaute
Scheune neben dem Haus, gleich draußen vor der Stadt. Allerdings
abseits der ausgetretenen Pfade, abseits der Touristenrouten.«
»Das hört sich ziemlich amüsant an«, bemerkte Daisy mit so
viel Überzeugung, wie sie aufbringen konnte. »Sie müssen mir
beschreiben, wo das ist.«
»Ich hab eine Karte – hier irgendwo.« Eunice grub in
ihrer Tasche herum und brachte ein Bündel Prospekte zum Vorschein. »Hab
sie selbst gedruckt.«
Das allerdings sah Daisy auch. Sie waren auf irgendeinem
Computer zusammengebastelt
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