Kaltes Gift
voll
Verpackungsmaterial oder kuriosen Dingen, die Eunice im Laufe der Jahre
angesammelt hatte. Die warf sie kurzerhand weg. Auch die Zeitungen
waren alt, sowohl die Lokalzeitungen als auch die überregionalen waren
Monate alt, und ein Stapel ganz hinten sogar etliche Jahre. Schon an
der Verfärbung und der Beschaffenheit des Papiers erkannte Daisy, wie
alt sie waren, denn hier in dieser Scheune war alles, was älter war als
ein paar Wochen, vergilbt und steif.
Als Daisy einen Stapel Zeitungen neben der Kasse entsorgte,
fiel ihr Blick auf eine Schlagzeile, bei der ihr beinahe das Herz
stehenblieb:
Leiche einer Rentnerin im Wald
gefunden.
Nach einem raschen Blick auf Eunice, die
weltvergessen ein weiteres Buch mit Schwarzweißfotos durchblätterte,
beugte Daisy sich über die Zeitung und überflog rasch den Artikel.
Der Leichnam einer
achtundsechzigjährigen Frau wurde gestern in einem Wald in der Nähe von
Ipswich gefunden. Die Leiche war in Plastikfolie eingewickelt und in
einem flachen Grab verscharrt worden.
Nach Aussagen der Polizei wurde die Rentnerin Violet
Chambers zufällig entdeckt, als ein Auto dicht bei der Stelle, wo sie
vergraben war, von der Straße abkam. Der Fahrer wurde noch am Unfallort
für tot erklärt.
Violet Chambers war nicht als vermisst gemeldet, und
die Polizei ermittelt derzeit, weshalb ihr Verschwinden zuvor nicht
bemerkt worden war. Aus Quellen innerhalb der Gerichtsmedizin wurde
berichtet, die Leiche habe ausgesehen, als habe sie bereits mehrere
Monate im Wald gelegen.
Die Worte in der Zeitung tanzten vor Daisys
Augen.
Violet Chambers. Sie hatten Violet Chambers gefunden.
Es war das erste ihrer Opfer, das gefunden worden war. Das
erste Glied einer langen Kette aus Beweismaterial.
Ein Fehler. Ein einziger Fehler konnte alles verderben.
Sie blickte zu Eunice hinüber. Jetzt würde sie schnell handeln
müssen. Sie musste sich hier etablieren, sich festsetzen und dann
verschwinden. Sie musste sich in einen Mantel der Ehrbarkeit hüllen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Eunice, als sie Daisy ansah. »Sie
sehen aus, als hätten Sie was Ekliges geschluckt.«
»Ich nicht«, entgegnete Daisy. »Noch nicht.«
12
D as Problem mit Landkarten war, fand
Lapslie, dass sie alles entmystifizierten.
Er saß im Ruheraum des Polizeihauptquartiers in Chelmsford.
Vor sich auf dem Schreibtisch hatte er ein Messtischblatt von dem Wald
ausgebreitet, in dem Violet Chambers' Leiche entdeckt worden war, und
er versuchte, herauszufinden, wohin der Wagen, der den Leichnam
abgeladen hatte, wohl hatte fahren wollen.
Der Wald war ihm so unendlich vorgekommen, als er ihn
durchstreifte, während er auf Emmas Rückruf wartete. Als dehne er sich
noch kilometerweit aus und überzöge die englische Landschaft wie ein
dunkler Fleck, uralt und unzugänglich, als gäbe es dort Gegenden, deren
Boden noch keines Menschen Fuß je berührt hatte, als könne es dort
Monster geben. Jetzt, da er den Wald hier auf der Karte sah, erkannte
er, dass er lediglich ein paar Quadratkilometer einnahm und an jeder
Seite von Straßen eingegrenzt war, eingesperrt in den Käfig des
Fortschritts. So nackt dargestellt auf dem Papier, für alle einsehbar,
hatte er seinen Zauber verloren. ›Obacht! Hier drohen Drachen‹, war auf
manch antiker Landkarte zu lesen, der Sinn moderner Karten jedoch
bestand einzig darin, alle Verstecke der Drachen auszuradieren und sie
jedem Narren mit einem Auto und ein Paar Wanderstiefeln zugänglich zu
machen.
Himmel noch mal, wie zynisch er war! Vielleicht war das durch
das Treffen mit Dom McGinley ausgelöst worden. Der Mann hatte bisher
nicht zurückgerufen, und Lapslie war sich gar nicht sicher, ob er es
tun würde. Sie hatten beide einen gewissen Respekt voreinander, jene
Art Respekt, wie ihn die beiden letzten aussterbenden Dinosaurier
wahrscheinlich voreinander empfunden hatten, doch das hieß noch nicht,
dass McGinley ihm tatsächlich irgendwelche Gefallen tun würde. Es war
ein Schuss ins Blaue, aber manchmal trafen die ja.
Genau das war auch der Grund, weshalb Lapslie sich über das
Messtischblatt beugte und mit dem Finger die Straße entlangfuhr, an der
Violet Chambers' Leiche gefunden worden war. Das Interessante war, dass
die Straße mitten durch den Wald führte. Jeder, der eine der großen
Städte in der Umgebung ansteuerte, hätte höchstwahrscheinlich eine der
breiteren Umgehungsstraßen zu beiden Seiten benutzt. Das waren
schnellere Strecken, besser beleuchtet. Die Straße durch den
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