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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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gedeckten Esstisch.
Feine Porzellantassen standen an jedem Platz, eine dazu passende
Teekanne in der Mitte des Tisches.
    Zwölf Menschen saßen still um den Tisch. Sie reagierten nicht
auf Lapslies Eintreten: kein Kopfwenden, kein Ausdruck des Erstaunens,
überhaupt nichts.
    »Polizei«, wiederholte Lapslie. »DCI Lapslie. Wem gehört
dieses Haus?«
    Niemand regte sich.
    Emma Bradbury ging entschlossen zum Fenster hinüber, reckte
die Hand und wischte die Spinnenweben fort. Licht flutete herein.
    Lapslie fuhr zurück. Emma keuchte auf. »Oh Gott!«, sagte sie
tonlos.
    Die zwölf Personen, die um den Tisch herumsaßen, waren alle
Frauen, und sie waren alle tot. Sie waren in der Reihenfolge ihres
Todes gesetzt worden. Die Leiche, die Emma am nächsten saß, war die
frischeste, doch das rote, gedunsene Fleisch sackte an den Knochen
herab, von Fliegen besudelt, grün und violett und grau. Ihre Augenlider
waren vor den leeren Augenhöhlen geschrumpft. Die Leiche neben Lapslie
war die älteste: nichts weiter als ein Skelett, dessen Fleisch nach und
nach durch Spinnenweben ersetzt worden war. Sie alle waren zerfallene
Relikte von etwas, das vielleicht einmal schön gewesen war.
    »Himmel und Hölle, womit haben wir es hier zu tun?«, wisperte
Emma.
    »›Wir sind nicht außerhalb‹«, murmelte Lapslie leise, »›dies
hier ist die Hölle.‹«

13
    I n dieser Nacht, als ihre Zimmerdecke vom
Mondlicht gesprenkelt war, das von der See reflektiert wurde, lag Daisy
wach. Die Laken unter ihr waren klamm, und sie spürte jede Falte im
Leinen an ihrer alten, schrumpeligen Haut. Wie immer sie sich auch
wälzte oder zusammenrollte, sie konnte die geheime Tür des Schlafes
nicht finden.
    Es war dieser Zeitungsartikel, der sie quälte. Dieser Bericht
über die Entdeckung von Violet Chambers' Leiche. Der erste Fehler, der
ihr jemals unterlaufen war, und er würde nicht aufhören, sie zu
verfolgen. Das wusste sie. Der Schock angesichts der Schlagzeile hatte
sie in Panik versetzt. Eunice hatte ihr eine Tasse Tee gemacht und bei
ihr gesessen, ohne recht zu verstehen, was Daisy in einen solchen
Zustand versetzt haben konnte, doch Daisy war wie erfroren, und ihr
Verstand wirbelte wieder und wieder im Kreis herum, wie eine Motte, die
eine Glühbirne umkreist.
    Und im Innern ihres Kopfes wieder dieser schmatzende Knall,
als der Ast Violets Kopf traf und die Schädeldecke eindellte. Und das
Blut, das das graue Haar verklebte. Und der lange Seufzer, als sie
ihren letzten Atemzug tat.
    Und während sie die Erinnerungen wieder heraufbeschwor,
während sie zurückkehrte in die Zeit, bevor der Ast Violets Schädel
zertrümmerte, als sie jene Landstraße entlanggefahren war, mit Violet
Chambers neben sich, auf dem Beifahrersitz zusammengesackt, glitt sie
unversehens in den langen, dunklen Tunnel des Schlafes, und die
Erinnerungen verwandelten sich verstohlen in Träume.
    Die Sonnenstrahlen, die zwischen den Blättern hindurchfielen,
malten Muster wie schwarze Spitze aufs Straßenpflaster. Sie hielt ihren
Volvo bei einem konstanten Tempo von knapp über fünfzig
Stundenkilometern – nicht schnell genug, um Aufmerksamkeit zu
erregen, nicht langsam genug, um andere Leute so sehr zu verärgern,
dass sie sich sie und ihren Wagen während der kurzen Momente des
Überholens einprägten.
    Sie hatte Violets leblosen Körper an jenem Morgen noch vor
Sonnenaufgang sehr sorgfältig in den Wagen bugsiert, hatte dabei den
Rollstuhl benutzt, den sie sich vorsorglich für diesen Zweck besorgt
hatte. Glücklicherweise führte die Einfahrt bis dicht an die Haustür,
so dass sie die Leiche nicht die Straße entlangkarren musste, wie sie
es früher gelegentlich hatte tun müssen. Der kritische Moment kam, wie
immer, als sie den Körper aus dem Rollstuhl auf den Beifahrersitz
rutschen lassen musste. Doch die heruntergeklappte Armlehne des
Rollstuhls, ein bisschen Kraftaufwand und das Vorbeifahren eines
geräuschvollen Mülltransporters hatten die Aufgabe leichter gemacht.
    Ein kariertes Plaid über Violets Schoß hatte die Illusion
vervollständigt, dass sie lediglich schliefe. Ihre Augen waren
geschlossen, und ein Stückchen Klebestreifen, quer über das Zahnfleisch
gedrückt, sorgte dafür, dass ihr Mund nicht in einem ungeeigneten
Moment plötzlich aufklaffte, wenn sie zum Beispiel vor einer Ampel
halten mussten. Ein dünnes weißes Baumwollband, in ihren Halsfalten
verborgen und hinter der Kopfstütze verknotet, verhinderte, dass ihr
der Kopf in auffälliger

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