Kaltes Gift
plötzlicher Knall von unten riss sie aus ihrer Träumerei.
Das Lenkrad ruckte in ihren Händen, und der Wagen fing an, auf die
Bäume zuzurutschen, gerade als sie auf eine Kurve zusteuerte. Voller
Panik trat sie auf die Bremse, und der Wagen kam schleudernd zum
Stehen, halb auf der Straße, halb auf dem Grasstreifen.
Mit zitternder Hand drehte Annie den Zündschlüssel. Der Motor
erstarb. Stille erfüllte den Wald.
Langsam stieg sie aus dem Wagen, als sie wieder atmen konnte
und das Pochen des Blutes in Hals und Schläfen sich ein wenig beruhigt
hatte. Der vordere Reifen auf der Seite, wo Violet saß, war platt und
hinüber, klebte halb geschmolzen als Spur auf der Straße. Panik
überschwemmte sie. Was machte man mit einem platten Reifen?
Wahrscheinlich musste man ihn auswechseln, aber wie sollte sie ihn
abkriegen? Und wo war der Ersatzreifen verborgen? Gab es überhaupt
einen Ersatzreifen im Wagen? Und Werkzeug?
Sie blickte nach vorn, die Straße entlang, wo diese eine
Biegung nach rechts machte, und dann zurück in die Richtung, aus der
sie gekommen war. Keine anderen Autos, keine anderen Menschen. Sie war
allein.
Was also tun? Annie ließ sich gegen die Seite des Wagens
sinken und hörte das Klicken und Ticken des Motors, als das erhitzte
Metall abkühlte. So etwas war ihr bisher noch nie passiert. So dicht
vor ihrem Ziel, dem sicheren Refugium, in dem all ihre Freundinnen
endeten, und doch so weit davon entfernt. So furchtbar weit.
Ihr Verstand sagte ihr zwar, dass sie zu Fuß Hilfe holen
könnte, doch sie konnte sich nicht erinnern, während der letzten
Kilometer ihrer Fahrt Häuser gesehen zu haben, und sie hatte keine
Ahnung, wie weit vor ihr die nächste Siedlung liegen konnte. Und sie
war alt und erschöpft: Sie würde nicht mehr als ein paar hundert Meter
schaffen, bevor sie sich ausruhen musste. Das Nächstbeste war, auf der
Straße jemanden anzuhalten, doch das konnte den ganzen Vormittag
dauern. Und ob sie nun ging und Hilfe holte oder hier wartete, bis
jemand auftauchte, diejenigen, die ihr zu Hilfe kamen, würden Violet
auf dem Beifahrersitz sehen. Und sie würden fragen, ob mit ihr alles in
Ordnung sei. Womöglich boten sie ihr einen Schluck Wasser an. Und
früher oder später würden sie dann merken, dass sie tot war.
Und dann würde alles anfangen, aufzufasern – jeder
sorgfältig verwobene Faden von Annies Leben.
Was immer sie jetzt tat, als Erstes musste sie Violets Leiche
loswerden. Sie überlegte kurz, ob sie sie in den Kofferraum des Wagens
verfrachten könnte, doch dann verwarf sie den Gedanken. Wahrscheinlich
war irgendwo dort drinnen der Ersatzreifen, und wenn nicht der
Ersatzreifen, dann irgendwelches Werkzeug oder sonst etwas, das
gebraucht wurde. Nein, der Kofferraum war ein zu großes Risiko. Sie
musste die Leiche irgendwie in den Wald schleppen, sie eventuell
oberflächlich unter Blatt- und Buschwerk begraben und dann später
wiederkommen und sie holen. Und das alles, ohne dass sie am Ende
aussah, als wäre sie rücklings durchs Unterholz geschleift worden.
Annie nickte vor sich hin: Leiche verstecken, jemanden
anhalten, ihn dazu bringen, dass er den Reifen auswechselte, dann, wenn
er fort war, die Leiche wieder zurückholen und weiterfahren. Das war
der Plan.
Sie stieß sich vom Wagen ab und ging um die Motorhaube herum.
Die offene Beifahrertür prägte sich ihrer Wahrnehmung ein, etliche
Sekunden lang, ehe sie die Tragweite dessen begriff, was es bedeutete.
Und dann sah sie den leeren Beifahrersitz.
Violets Leiche war verschwunden. Violet war
verschwunden.
Annie blickte wild um sich. Sie war immer noch allein. Einen
dumpfen Augenblick lang war sie überzeugt, Violets Leiche in dem Haus
zurückgelassen und sich nur eingebildet zu haben, sie hätte während der
letzten Stunden neben ihr gesessen. Dann war sie sich sicher, dass
jemand gekommen war und die Leiche aus dem Wagen geholt hatte, während
sie abgelenkt war. Es dauerte eine Weile, ehe ihr die Wahrheit
dämmerte. Ihr Kuchen war ein Fehlschlag gewesen. Violet hatte noch
gelebt, als Daisy sie in den Wagen gesetzt hatte, wenn auch in einer
Verfassung, die einem Koma so ähnlich war, dass Annie sich getäuscht
und gedacht hatte, sie sei tot. Irgendwie war sie jetzt wieder zu
Bewusstsein gekommen und geflohen. War ihr klargeworden, was ihr
geschehen war, oder handelte sie rein aus Instinkt – bloß weg
von hier, irgendwohin, weg aus der fremden Enge von Annies Volvo?
Aber kam es darauf an? Annie musste sie
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