Kaltes Grab
hatte.
»Er hat keine Familie«, erklärte er. »Aber seine Geschichte hängt gewissermaßen eng mit der Ihres Vaters zusammen. Warum betrachten Sie ihn nicht einfach als Teil Ihrer Gemeinde?«
In diesem Moment hielt Fry Mrs Lukasz die Tür auf. Sie und ihr Mann sahen einander nicht an, als sie an ihm vorbeifuhr und er den Rollstuhl die Rampe hinunter und aus dem Polizeirevier schob.
Das Pflegeheim erschien Ben Cooper an diesem Abend wie ein Hort des Friedens und der Geborgenheit. Alle Zufahrten waren vom Schnee befreit, und überall auf den Gehwegen war Sand gestreut, damit niemand ausrutschte. In der West Street hatte sich bis jetzt noch niemand darum gekümmert. Außerdem brannte überall Licht, und als er hineinging, sahen alle Räume warm und freundlich aus.
Cooper setzte sich ins Wartezimmer, weil er wusste, dass es den Pflegern lieber war, wenn sie seine Mutter erst ein wenig zurechtmachen konnten, bevor sie ihn empfing - oder, besser gesagt, sie für ihn einigermaßen präsentabel herzurichten. Bei dem Gedanken, dass man ihm die ungeschminkte Wahrheit über ihren Zustand ersparen wollte, dessen Ausmaß er bereits über ein Jahr zu Hause auf der Bridge End Farm miterlebt hatte, musste er lächeln.
Als eine der Pflegerinnen Cooper warten sah, kam sie auf ihn zu. Auf ihrem Namensschild stand Rachel. Cooper war ihr schon häufiger begegnet.
»Isabel ging es heute recht gut«, sagte sie.
»Vielen Dank. Ich glaube, sie hat sich inzwischen hier eingelebt.«
»Aber ja. Es ist doch hier viel besser für sie. Sie wird rundum betreut, und auch ihre Medikation wird ständig überwacht. Sie müssen sich deswegen keine Vorwürfe machen.«
Cooper hob die Augenbrauen. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Es ist ganz normal, dass es Familienmitgliedern so geht. Es dauert eine Weile, bis sie feststellen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Sie werden sehen, dass Isabel ganz zufrieden ist. Sie hat sogar schon Freundschaften geschlossen.«
»Ich würde trotzdem gern jeden Tag vorbeikommen, wenn Ihnen das recht ist.«
Rachel lächelte. Sie war jung, vielleicht fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig. Cooper konnte nicht verstehen, was eine Frau wie sie bewog, sich um die älteren Angehörigen anderer Leute zu kümmern.
»Aber selbstverständlich, jederzeit«, erwiderte sie. »Kommen Sie, so oft Sie wollen.«
Cooper sah eine Gestalt auf dem Flur in Richtung Ausgang gehen, die ihm irgendwie bekannt vorkam, obwohl er im ersten Augenblick nicht darauf kam, wer es war. So etwas passierte ihm immer wieder: Er begegnete jemandem, aber ihm wollte einfach der Name des Betreffenden nicht einfallen, da er ihn außerhalb des gewohnten Zusammenhangs sah. Vielleicht war der Mann auch anders angezogen als sonst. Dann schwang die Eingangstür auf, und ein frischer Windstoß blies bis ins Wartezimmer. Die Kälte half Coopers Gedächtnis auf die Sprünge.
»Das war George Malkin«, sagte er.
»Oh, Sie kennen Mr Malkin?«, fragte Rachel. »Seine Frau wohnt auch bei uns. Sie ist schon ziemlich lange hier.«
»Ja, es muss schon recht lange sein.«
»Wie bitte?«
»Ich habe nur laut gedacht. Ich war erst vor kurzem bei ihm zu Hause. Dort ist, gelinde gesagt, nicht viel von weiblichem Einfluss zu erkennen.«
»Armer Kerl. Manche Männer sind völlig hilflos, sobald sie allein leben.«
»Das Gefühl habe ich auch«, sagte Cooper.
»Florence Malkin leidet an Demenz. Altersschwachsinn. Manchmal erkennt sie ihren Mann, aber kurioserweise sind das die schlimmsten Tage. Florence hat so eine fixe Idee. Sie ist überzeugt davon, dass George ihr eine Privatbehandlung bezahlt. Sie sagt, dass er das Geld dazu hat und sie bald wegschickt, damit sie geheilt wird. Manchmal redet sie von einem hervorragenden Arzt in der Harley Street, dann wieder von einem berühmten Spezialisten in Amerika. Sie fragt ihn jedes Mal danach, wenn er kommt -falls sie ihn erkennt. Sie fragt ihn immer wieder, und er weiß nicht, was er ihr darauf antworten soll. Keine Ahnung, wie sie darauf kommt. Es ist offensichtlich, dass keiner von beiden mehr als zwei Pennies zum Aneinanderreihen hat.«
Rachel seufzte. »Aber man sieht, dass er sie vergöttert. Ich weiß nicht, wie er es schafft, für ihre Betreuung aufzukommen, ohne dass er das Haus verkaufen muss. Aber es wird nun nicht mehr lange dauern. Der arme Mann.«
»Ja«, sagte Cooper. »Der arme Mann.«
31
B en Cooper rief Diane Fry auf ihrem Handy an. Er wusste nicht, was sie abends nach Dienstschluss
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