Kaltes Herz
antwortete nicht.
«Was machst du denn da?»
«Ich gehe weg.»
Henriette holte den Violinkasten aus dem Schrank hervor, legte das Medaillon aus ihrer Schürze hinein, trug den Kasten in ihr Zimmer und legte auch Idas Buch dazu.
«Wohin denn?»
Henriette setzte Maria auf Idas Bett, holte ein Taschentuch aus der Schublade des Waschtisches und wischte dem Mädchen die Tränen ab.
«Wo ist Mutter denn hingerannt?»
«Ich weiß es nicht, Maria.»
«Ich will zu Ida.»
Ja, zu Ida. Ida war das einzige warmherzige Wesen gewesen in diesem Haus. Niemand wollte zu Katharina oder zu Tante Johanne oder zu den immer misstrauischen Zwillingen.
Marias Weinen war lauter geworden, und endlich fing auch Henriette an zu weinen.
«Ida …» Henriette wusste, dass sie dem Mädchen die Wahrheit sagen musste. «Ich fürchte, ihr ist etwas zugestoßen, Maria.»
«Was heißt zugestoßen?»
Henriette kam nicht dazu zu antworten, denn der Lärm, der aus dem Erdgeschoss heraufdrang, war unbeschreiblich. Heinrich brüllte wie ein Tier, Maria fuhr zusammen und presste sich die Hände auf die Ohren.
Dann gingen Dinge zu Bruch, Scheiben klirrten, und das Poltern und Krachen klang, als sei Heinrich mit einer Axt zugange. Henriette stand still und lauschte. Erst war er im Büro, dann tobte er durch den Flur, warf etwas an die Wand. Was, wenn er heraufkam? Dann würde sie mit Maria die Hintertreppe nehmen, raus aus dem Haus, raus auf die Straße. Oder wäre es besser, sich auf dem Dachboden zu verbergen, von wo sie mit Ida ihr Bett heruntergeschleppt hatte? Dann war Heinrich in der Essstube, in der Küche. Und es nahm kein Ende.
Henriette hörte ein Poltern auf der Hintertreppe. Aber er war doch in der Küche? Mit klopfendem Herzen wagte sie einen Blick in den Flur hinaus. Es war nicht Heinrich, es waren Katharina und die Zwillinge, die mit fliegenden Schürzen um die Ecke gestürzt kamen.
«Wo ist Maria?», rief Katharina.
«Bei mir.»
«Bring sie mit rüber!»
Katharina und die Zwillinge verschwanden in Katharinas Kammer.
Hand in Hand folgten Henriette und Maria. Henriette war noch nie in Katharinas Kammer gewesen. Sie war größer als die von Ida, und es gab Spielsachen und einen Tisch, auf dem Bücher lagen. Sobald alle im Zimmer waren, schloss Katharina die Tür.
«Schließ ab», sagte Hulda, «bitte!»
Katharina nickte, drehte den Schlüssel, der im Schloss steckte.
«Er hat die Geschirrschränke umgeworfen, in der Essstube und in der Küche. Alles kaputt», sagte Hulda.
«Und in der Betstube hat er die Stühle durch die Fenster nach draußen in den Hof geworfen», fügte Ernestine hinzu. «Wenn Mutter das erfährt …»
Gemeinsam lauschten sie, und jedes Mal, wenn etwas zu Bruch ging, zuckte Maria zusammen und hielt sich die Ohren zu. Sie war es auch, die schließlich das Thema auf Ida brachte.
«Hetti, was hast du damit gemeint, dass Ida etwas zugestoßen ist? Was bedeutet das?»
Alle Blicke wandten sich Henriette zu.
Henriette hatte, bis auf Idas Buch, nichts ausgelassen. Sie hatte alles erzählt, was in der letzten Nacht geschehen war. Auch das, was in Tante Johannes Büro passiert war. Sie schloss mit denselben Sätzen, die sie auf Heinrichs Papier gelesen hatte.
Ida ist tot. Die Maschine hat sie – – –
Danach herrschte Schweigen, unterbrochen nur vom Schluchzen der Mädchen und von Heinrichs Zerstörungswut.
Henriette wartete, die bitterlich weinende Maria auf dem Schoß, bis das Wüten unten im Haus nachließ, bis Heinrich sich erschöpfte, nicht mehr weiterkonnte, vielleicht zusammenbrach.
«Katharina, lass mich bitte hinaus», sagte sie schließlich.
Sanft nahm sie Maria in den Arm, drückte sie noch einmal an sich.
Das Mädchen weinte, wenn das überhaupt möglich war, noch heftiger als zuvor.
«Du darfst nicht gehen!», schluchzte sie.
«Ich muss, Maria. Glaub mir, ich muss.»
«Kommst du denn wieder?», wollte sie wissen.
Henriette wollte Maria nicht anlügen und schüttelte den Kopf.
«Nicht so bald jedenfalls. Aber du kommst mich in Berlin besuchen, ja? Versprochen?»
Maria nickte, und Henriette löste sich von ihr und stand auf.
«Auf Wiedersehen», sagte sie.
Die Zwillinge und Katharina gaben ihr die Hand und verabschiedeten sich, und trotz ihrer verweinten Augen erkannte Henriette Anerkennung in ihren Gesichtern.
«Und ihr kommt mich auch besuchen, ja?»
Die anderen Mädchen nickten und versprachen es, und dann ließ Katharina sie hinaus und schloss gleich hinter ihr wieder
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