Kaltes Herz
Schuhe knirschten über herabbröckelnden Putz, und je weiter er vordrang, desto ohrenbetäubender wurde der Lärm der Maschine. In das Rollen mischte sich jetzt das Kreischen von Metall auf Metall.
Als Heinrich den Saal betrat, sah er die Maschine an ihren Verankerungen reißen wie ein gefangenes Tier. Feldsteine aus der Saaldecke lagen auf dem Boden, manche so groß wie sein eigener Kopf. Die Steine, die in die Maschine gefallen waren, wurden von der Walze zermalmt und mit Idas Überresten vermengt. Heinrichs Herz schlug schneller. Sie hatte Blut geleckt. Sie wollte mehr, und sie war zornig, denn Putz und Steine schmeckten ihr nicht.
Warte, dachte er, warte nur noch eine Minute. Ich gebe dir mehr. Sicher konnte der Weg, der jetzt vor ihm lag, nicht schwerer sein als der, den er bereits hinter sich gebracht hatte.
Heinrich machte sich nicht die Mühe, wie Ida über das hohe Schutzgitter zu klettern. Er griff in die Gitterklappe an der Stirnseite der Maschine und riss sie mit einem Ruck heraus, das Metall schnitt ins Fleisch seiner verbliebenen Finger, doch das kümmerte ihn nicht. Er würde sie gleich nicht mehr brauchen. Er stemmte sich hoch auf den Rand des Walzbettes. Dann wartete er einen Walzgang ab, vorwärts, Anschlag, Pause, rückwärts, Anschlag, Pause, ein Sechsachteltakt, er wartete noch einen Walzgang ab, einszweidrei, vierfünfsechs, bis der Rhythmus, der ihm so vertraut geworden war, noch tiefer in Fleisch und Blut überging. Nur noch ein winziger Moment, dann würde er sich mit ihr vereinen. Und mit Ida, mit den Steinen von der Saaldecke, mit allem, was war. Er würde Teil der gesamten kosmischen Materie werden, unterscheidungslos, Gleiches unter Gleichem, und der Geist seiner Schöpfung würde den seinen in sich aufnehmen, ihn wie einen lange Verschollenen zu Hause willkommen heißen. Als die Walze das nächste Mal auf ihn zukam, stellte Heinrich sich mit dem Rücken zum Walzbett. Als sie anschlug und sich wieder von ihm fortbewegte, breitete er die Arme aus, einszweidrei, und ließ sich rücklings auf das Walzbett fallen. Vierfünfsechs.
Das Letzte, was Heinrich sah, war ein scharfkantiger Streifen staubigen Tageslichts, das durch einen Spalt in der Saaldecke zu ihm herabfiel. Durch den Spalt erkannte er für den Bruchteil einer Sekunde einen der grünen Samtvorhänge im Erdgeschoss, vielleicht war es jener, hinter dem er gestanden hatte, als er Henriette und den Wäschefahrer beobachtet hatte. Gleich bist du frei, dachte Heinrich, und dann erfasste ihn die Walze.
Mit einem letzten, kreischenden Satz riss die Maschine sich endlich aus ihren Verankerungen. Steine, Balken und Dreck stürzten auf sie herab, fraßen sich zwischen Zahnrädern fest, blockierten Riemen und Kolben, verbogen Wellen und zerrissen Schläuche. Sie war frei, für wenige Sekunden, bevor auch sie unter dem einstürzenden Westflügel endlich Ruhe gab.
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30
D as erste Mal erwachte Henriette am späten Nachmittag und stellte fest, dass sie nicht aufstehen konnte. Ihre Beine waren steif, ihre Muskeln schmerzten, sie war schwach, und sie fror. Die Schafe hatten sich über die Weide verteilt und grasten. Henriette massierte ihre kalten Beine, bis es ihr gelang, sich am Zaun des Unterstands bis zu ihren Röcken entlangzuhangeln. Sie waren noch immer nass. Nur in Mieder und langen Unterhosen wagte Henriette sich hinaus auf die Weide, trank Milch, kehrte dann erschöpft in den Unterstand zurück. Zwei Schafe begleiteten sie und schmiegten sich an sie, als ob sie wüssten, dass sie Henriette warm halten mussten.
Dann war es plötzlich schon wieder Nacht um Henriette, und dann schon wieder Vormittag, und er war schon so weit vorangeschritten, dass Henriette sich schwach fühlte vor Hunger und Durst. Es wurde jetzt wirklich höchste Zeit, sie musste weiter, sie konnte nicht tagelang von ein paar Schlucken Schafsmilch leben, sie musste Menschen suchen, und wenn hier Schafe waren, dann konnten Menschen doch nicht weit sein. Henriette nahm all ihre Kraft zusammen und begann leise vor sich hin zu summen. Es ging doch, sie konnte noch laufen, und sie durfte nicht vergessen, solange die Musik bei ihr war, lebte sie. Henriette zog ihre inzwischen getrockneten Röcke an, sie waren steif und schmutzig vom Grabenwasser, aber sie sorgten dafür, dass sie sich nicht mehr ganz so hilflos vorkam.
Sie trat aus dem Unterstand hervor, schirmte die Augen gegen die Sonne ab, genoss die Wärme auf ihrer Haut, endlich
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