Kaltes Herz
Bewusstsein war, gehorchte ihr Körper ihr nicht, es war, als würde sie sich durch zähen Schlamm bewegen, der an ihr zog und sie im Dunkeln hielt.
«Muss ein Tier gewesen sein», sagte der Kutscher und hängte die Laterne wieder an ihren Haken. «Vielleicht ein Reh.»
Er schnalzte, Henriette hörte Hufe, Räder, dann nur noch ein wenig Wind im Gras, und weil sie danach nichts mehr hörte, nichts mehr fühlte, keine Kälte oder Wärme, keinen Schmerz, und auch nichts sah, nahm sie an, dass sie jetzt wirklich eingeschlafen war. Oder vielleicht war es auch einfach nur das Rollen der Maschine, das ihr fehlte, vielleicht hatte es sie taub gemacht. Henriette öffnete den Mund und probierte, ob sie noch singen konnte. Sie spürte die Bewegung in der Kehle, spürte die Zunge in ihrem Mund, die die ausströmende Luft zu Lauten formte, und wenn sie sich große Mühe gab, dann hörte sie sich auch, weit entfernt zwar, aber immerhin, sie war noch da, ein bisschen nur, aber wenn sie sang, wurde es besser. Langsam kehrte das Leben in sie zurück. Sie raffte sich auf, erst auf Hände und Knie, dann auf die Füße, der Geigenkoffer war noch da, alles würde gut werden. Dann lief sie weiter, sang sich querfeldein durch den heraufdämmernden Morgen. Sie würde einfach immer weitersingen.
Als Henriette einen Viehunterstand erreichte, war es bereits so hell, dass sie die die weichen Rücken der aneinandergeschmiegt schlafenden Schafe erkennen konnte. Vorsichtig stieg sie über die Tiere hinweg, bis sie mitten in der Herde stand, umgeben von atmenden, warmen Leibern. Henriette summte eine ruhige Melodie, und die Tiere schienen das zu mögen. Vorsichtig ging sie in die Hocke, zwei Schafe rückten ein wenig auseinander, machten ihr Platz. Sie wurde geduldet. Das Gras unter ihnen war trocken und weich. Aber noch durfte sie nicht schlafen. Erst musste sie die nassen Sachen ausziehen, sonst würde sie sich eine Lungenentzündung holen, und wie sollte sie dann singen, wie Charlie es ihr gesagt hatte? Singen war wichtig, Charlies Violine war wichtig.
Henriette zog die nassen Röcke aus und hängte sie über den Zaun, der den Unterstand umgab. Dann erst legte sie sich hin, drängte sich an die leicht fettige, raue Schafwolle, und während sie leise weitersang, stand ein Mutterschaf auf, von seinem Lamm gedrängt und in die Seiten gestoßen, und ließ es trinken. Als das Lamm fertig war, legte Henriette vorsichtig eine Hand ans Euter des Muttertiers.
«Wenn ich doch wüsste, wie man ein Schaf melkt», summte sie. «Sicher ist es nicht schlimm, wenn ich es versuche.»
Henriette strich die Zitze mit einer Hand aus und fing mit der anderen Hand einige Tropfen Milch auf und leckte sie sich von den Fingern. Es dauerte lange, aber es gelang ihr, von dem einen Tier und dann auch von einem zweiten zu trinken. Es reichte nicht, um satt zu werden, doch als der schlimmste Durst gestillt war, konnte sie sich endlich zwischen die wolligen Leiber schmiegen und schlafen.
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29
N iemand bemerkte, dass Heinrich fortging, Johanne und Ada nicht, sie waren mit Regenmachers blutendem Leib beschäftigt, und die Mädchen nicht, denn die liefen aufgeregt hin und her und versuchten, die gute Stube wieder in Ordnung zu bringen. Erstaunlich, wie wichtig solch ein kleiner Raum wurde, wenn alle anderen Räume nicht zu bewohnen waren. Wie sich dort alles konzentrierte, und wie die Frauen die Polsterstühle von dem Blut reinigten, die tapezierten Wände, wie sie ihn beäugten um sicherzugehen, dass er nicht auch hier noch den Schrank umreißen und das gute Geschirr zerschlagen würde. Aber Heinrich verhielt sich ganz ruhig, stand still an der Wand, dicht bei der Tür, und betrachtete die Szene. War es nicht seltsam? Wie er selbst schien auch Regenmacher unsterblich zu sein. Als er sich überzeugt hatte, dass der Mann, den er als seinen einzigen Freund gekannt hatte, nicht seine letzten Atemzüge tat, wandte er sich um und ging. Er wollte nicht länger zusehen, wie er seine kleinen, unwichtigen Schmerzen litt. Nichts litt er gegen das, was Heinrich gelitten hatte, den höchsten Preis hatte immer er gezahlt. All die Jahre hatte er auf Regenmacher gehört. Jetzt war er einfach nur müde, und Regenmachers Anblick machte ihn krank. Er würde sich schlafen legen, gleich neben Ida. Das wäre sicher angenehm.
Heinrich stieg über die kaputte Uhr vor der Tür zu seinem unterirdischen Reich, zu der kleinen Hölle, die er sich erschaffen hatte. Seine
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