Kaltes Herz
ich anziehe.»
«Ich finde dich sehr hübsch», sagte Henriette wahrheitsgemäß.
Ida kam ihr vor wie ein sprudelnder Bach, wie etwas, das ihr gefehlt hatte, ohne dass sie es gewusst hatte: schlichtes, frisches Wasser.
«Meine Freunde nennen mich übrigens Hetti, nicht Henriette.»
Es tat gut, diesen Satz zu sagen, auch wenn er nicht der Wahrheit entsprach. Oder zumindest noch nicht lange. Außer Charlie hatte noch nie jemand Hetti zu ihr gesagt.
«Es tut mir leid, dass ich hier einfach so reinplatze. Deine Mutter ist darüber nicht sehr erfreut.»
«Ach! Die ist nie über irgendetwas erfreut. Erzähl, warum bist du hier? Wie lange bleibst du?»
«Ich soll mich erholen», sagte Henriette und errötete.
«Ist es denn so beschwerlich in Berlin?»
«Meine Stimme ist angegriffen, und Landluft …»
«Heiser bist du auf jeden Fall.»
«Hoffentlich falle ich euch nicht zur Last.»
«Also, ich freue mich jedenfalls, dass du hier bist! Aus Berlin! Du hast bestimmt so viel zu erzählen!»
Henriette zuckte die Schultern. «Ich weiß nicht.»
Ida seufzte. «Das ist schon verrückt, da lerne ich dich endlich kennen, aber statt dass wir nach Berlin fahren und uns ausführen lassen, kommst du hierher in unsern alten Stall. Wir haben einfach zu viel Arbeit hier, weißt du? Wir können nicht weg! Aber wir reden ständig darüber: Nach Berlin! Das wäre was!»
Henriette hatte ein komisches Gefühl im Magen.
«Du wusstest von mir?»
«Noch nicht sehr lange, Mutter hat euch nie erwähnt. Aber Professor Regenmacher hat uns einmal beim Essen von euch erzählt.» Ida lachte bei der Erinnerung. «Mutter hat sich gewunden.»
«Aber warum?»
Ida zuckte die Achseln. «Sie ist sehr katholisch. Vielleicht findet sie es unanständig, dass du im Theater auftrittst?» Idas Augen leuchteten. «Du musst mir alles darüber erzählen! Ich war noch nie in einem Theater. Ich würde so gerne einmal gehen …»
«Wer ist Professor Regenmacher?»
«Den kennst du nicht? Er ist phantastisch!» Der Ausdruck auf Idas Gesicht wechselte sekündlich, Begeisterung wurde von Sehnsucht abgelöst, Sehnsucht von Seligkeit, und nun kam ein ernsthafter Enthusiasmus, ein Tatendrang, der Henriette ihre Traurigkeit und die Müdigkeit nach der Reise fast vergessen ließ.
«Na, wie auch immer, jetzt müssen wir erst mal überlegen, wo du bleibst. Du kannst ein Zimmer für dich allein haben, wir haben mehr als genug davon. Aber ich fände es viel besser, wenn wir einfach noch ein Bett hier hereinholen. Ich bin die Einzige, die keine Schwester im Zimmer hat. Dabei bin ich gar nicht gerne allein. Willst du?»
Henriette zögerte. Sie war durchaus gerne allein, und sie war es auch nicht gewohnt, zum Schlafen Gesellschaft zu haben.
Andererseits mochte sie dieses Mädchen. Obwohl sie Ida erst seit zehn Minuten kannte, fühlte es sich an, als wäre sie seit Kindertagen ihre Vertraute gewesen. Sie hatte noch nie eine richtige Freundin gehabt. Plötzlich fühlte es sich doch wie ein Abenteuer an, hier draußen bei den Pflogs zu sein. Henriette lächelte.
«Ich würde sehr gerne bei dir wohnen.»
Die nächste Stunde brachten die Mädchen damit zu, eins der Dutzend bunt bemalten Holzbetten vom Speicher zu holen und in Idas Zimmer zu wuchten. Sie schwitzten und schlugen sich mehrmals die Ellenbogen und Finger an, wenn sie um eine Ecke mussten, sie unterdrückten Flüche und lachten, und schließlich gelang es ihnen. Das Bett bekam den freien Platz unter dem Fenster, sodass Idas und Henriettes Fußenden über Eck beieinanderstanden. Anschließend holten sie eine dreiteilige Matratze vom Speicher, die ein wenig klamm, aber nicht schimmelig war, dann Decken und Kissen aus einem großen Schrank im Flur, viele Kissen, denn Ida war der Meinung, dass ein Mädchen aus der Stadt weich schlafen musste. Zuletzt zog sie aus dem Schrank noch einen Stapel frischer Bettwäsche, reichte Henriette einen blütenweißen Bettbezug, verziert mit feinster Lochstickerei, Kissenbezüge und ein Laken und machte sich dann daran, ihr eigenes Bett neu zu beziehen.
«Heute ist Bettentag», erklärte sie schnaufend. «Nach diesem habe ich noch fünf weitere Betten vor mir.»
Henriette versuchte unauffällig, bei Ida abzuschauen, wie man die Sache anfangen musste. Sie hatte in Berlin niemals ihr Bett selbst bezogen, das hatte immer das Mädchen für sie getan, und sie hatte das nie in Frage gestellt. Doch hier neben Ida war es ihr peinlich, dass sie nicht einmal die einfachsten
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