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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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überdimensioniertes Schachbrett, das sich in den Ecken in Düsternis verlor, obwohl am Ende des Flurs eine elektrische Lampe in einem Blütenkelch aus Glas von der Decke hing und gelbes Licht verbreitete. Der Geruch nach frischer Wäsche und einem sicher erst kurz zurückliegenden Mittagessen mit Bohnen und Fleisch hing in der Luft.
    Johanne Pflog blieb am Fuß einer hölzernen Treppe stehen.
    «Ida! Lass die Betten und komm runter!», rief sie hinauf.
    Henriette hörte Türenklappen, eilige Schritte oben im Haus, die gleich darauf die Treppe heruntergepoltert kamen, und einen Moment später erschien ein Mädchen, nur wenig jünger als Henriette, mit schlanken Armen und frischem Gesicht, das von kaum frisierten rotblonden Locken umrahmt war.
    Als das Mädchen sah, dass Besuch da war, noch dazu in eleganter Stadtkleidung, wurde sie langsamer, krempelte ihre Ärmel herunter und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
    «Guten Tag», sagte sie mit einem Lächeln.
    Henriette streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen, zog sie aber erschrocken zurück, als direkt hinter ihr ein unerklärlicher Lärm einsetzte, ein Schrillen, spitz und schmerzhaft in den Ohren. Henriette fuhr herum. Über einer grün gestrichenen Tür gegenüber der Treppe hing eine silberne Vorrichtung, die diesen Lärm veranstaltete, der nicht aufhörte, sondern ständig noch anzuschwellen schien.
    «Der Herr des Hauses geruht einen Wunsch zu haben!»
    Ida überschrie die Klingel und verdrehte die Augen. Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
    «Sei nicht so frech!», schalt Tante Johanne. «Das hier ist deine Cousine Henriette. Sie bleibt für eine Weile. Zeig ihr alles.»
    Damit drehte sie sich um, zog einen Schlüssel aus der Schürze, öffnete die grüne Tür und verschwand im Dunkel dahinter.
    Henriette stand da, noch immer schrillte die Klingel, und es war unmöglich, diesen Lärm mit ihrer angegriffenen Stimme zu übertönen. Sie lächelte, so gut es ging.
    Ida nahm Henriette die Tasche aus der Hand.
    «Komm mit rauf», schrie sie.
    Sie eilten die Stufen hinauf, weg von der Klingel, einen langen Dielengang mit Türen auf beiden Seiten entlang, dann einige Stufen hinab zu einem zweiten, schmaleren Treppenhaus, dann wieder hinauf und nach links um eine Ecke, das Klingeln hinter ihnen wurde leiser, riss jedoch noch immer nicht ab.
    Erst als Ida eine Tür aufgerissen, Henriette vor sich her in den Raum geschoben und die Tür wieder zugeworfen hatte, war es beinahe still.
    «Puh!», sagte Ida, warf Henriettes Tasche auf das Bett in der Ecke und ließ sich auf den einzigen Stuhl im Raum neben einem kleinen Waschtisch fallen.
    «Das macht er nur, damit Mutter sich ja keine Minute länger Zeit lässt als unbedingt nötig.»
    Das Zimmer war kleiner als die beiden Räume, die Henriette in Berlin für sich hatte. Vor dem Bett lag eine orientalische Brücke, blaue Vorhänge vor dem quadratischen Fenster, und über dem Bett war ein Brett befestigt, auf dem einige Bücher lagen, eine Spieluhr, eine kleine Blumenvase aus grünem Glas mit intensiv duftenden Maiglöckchen darin. Ein Mädchenzimmer. Plötzlich sprang Ida wieder von ihrem Stuhl auf und bot ihn Henriette an.
    «Hier, setz dich! Du bist bestimmt müde von der Reise. Soll ich dir einen Tee machen? Oder hast du Hunger? Setz dich!»
    Henriette setzte sich, lächelte. Sie hatte tausend Fragen, wusste aber nicht, wo sie anfangen sollte, und sie empfand eine Schüchternheit, die ihr ganz fremd war.
    Vielleicht lag es daran, dass sie in ihrem ganzen Leben noch kaum mit ganz normalen, gleichaltrigen Mädchen zu tun gehabt hatte? Sie war nie in eine richtige Schule gegangen, hatte immer Privatunterricht gehabt, und tatsächlich kam es ihr wesentlich einfacher vor, auf eine Bühne hinauszutreten und vor Hunderten von Menschen zu singen, als sich mit einem einzelnen Mädchen zu unterhalten.
    «Dein Reisekleid ist phantastisch. So eins würde ich auch gerne mal haben. Und der Hut! Trägt man das so in Berlin?»
    Henriette zog die Hutnadel heraus, nahm den Hut ab und reichte ihn Ida.
    «Darf ich?»
    «Ja, natürlich.»
    Ida setzte sich den Hut auf die hellen Locken und drehte den Kopf vor dem Spiegel über dem Waschtisch hin und her. Dann blies sie die Backen auf und ließ die Luft wieder entweichen, bevor sie Hetti den Hut zurückgab.
    «Dir steht er viel besser, du hast ein schmales Gesicht. Meins ist zu rund für so einen Hut. Aber ich sehe sowieso immer wie eine Bauernmagd aus, ganz egal, was

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