Kaltes Herz
das Gesicht, so als könnte sie mit den Augen den Grad ihrer Schärfe erkennen.
Henriette setzte sich erschöpft auf einen Schemel und blickte staunend an den übervollen Regalen hinauf.
«Will diese Sachen denn niemand zurückhaben?», fragte sie.
«Manchmal ja. Wir heben die Sachen ein halbes Jahr lang auf, um zu sehen, ob jemand danach fragt. Danach spenden wir sie der Fürsorge. Manchmal suchen wir uns auch selbst etwas aus.»
Ida schien plötzlich ein wenig verlegen zu sein.
«Möchtest du dir etwas aussuchen?»
«Darf ich?»
«Ja, was du möchtest!»
In Henriette stieg eine ganz unerwartete Freude auf. Das war wie Weihnachten, nein, es war besser, weil an jedem dieser Gegenstände eine Geschichte hing, ein menschliches Schicksal, Henriette meinte beinahe, all die Gedanken und Gefühle und Erinnerungen zu spüren, die in den Gegenständen um sie herum aufbewahrt waren wie zitternde Seelen. Sie stand auf und strich mit den Händen bedächtig über einige der Gegenstände.
Wem mochte die Lammfellmütze gehört haben? Sie war klein und seidig, eine Kindermütze, und obwohl sie wunderschön gearbeitet war, tat Henriette der Gedanke leid, dass dafür einem Lamm das Fell über die Ohren gezogen worden war. Sie legte die Mütze zurück und sah sich weiter um. Was würde Charlie aussuchen?
Plötzlich wusste sie, was sie wollte. Sie wollte etwas, das sie ihm schenken konnte, wenn sie sich wiedersahen, etwas, das Bedeutung für ihn haben könnte.
Und dann hatte sie es, es lehnte ganz oben rechts in der Ecke, stieß an die Treppenstufen über ihr. Ein schlanker Violinkoffer.
«Ida, ist dort eine Violine drin?»
«Ich weiß nicht. Sollen wir nachsehen?»
«Ja, bitte.»
Henriette stand auf, und Ida stellte den Schemel vor das Regal, stieg hinauf und räumte ein Spielzeugboot und einige Bücher beiseite, um an den Violinkoffer heranzukommen und ihn Henriette herunterzureichen.
Er war verstaubt und rissig, doch als Hetti die Verschlüsse öffnete, sah sie, dass innen alles in bester Ordnung war. Das Holz der Violine glänzte und war gepflegt, die Saiten waren ganz, und der violette Samt des Futters war weich, selbst der Bogen hatte kaum Haare gelassen. Nur das Kolophonium war bröckelig, das würde sie ersetzen müssen.
«Spielst du denn?», wollte Ida ehrfürchtig wissen.
«Nur kleine Etüden. Aber falls wir in den Wäschesäcken mal ein Pianoforte finden sollten …»
Ida lachte.
«Möchtest du sie?»
«Darf ich wirklich?»
«Ich glaube, sie steht schon seit zwei oder drei Jahren hier.»
Henriette lächelte glücklich. Sie stellte sich vor, wie Charlie die Violine bekam, stellte sich sein Gesicht vor. Er hatte gesagt, er könnte spielen. Sie hoffte, dass das nicht eine von seinen Lügen gewesen war, doch sie glaubte es nicht. Sein Gesicht hatte geleuchtet, als er von seiner Musik, von seiner Violine und den vom Mund abgesparten Notenblättern gesprochen hatte.
«Tante Johanne wird es bestimmt nicht erlauben.»
«Einfach», sagte Ida. «Wir warten, bis sie unten bei Vater ist. Dann hole ich sie und bringe sie nach oben. Wir können sie im Schrank im Flur verstecken, ganz unten unter den Wolldecken, die braucht vor dem Winter keiner mehr.»
Es klang, als habe Ida schon Erfahrung mit dieser Art von Schmuggel.
«Ida?»
«Ja?»
«Meinst du, ich könnte mich jetzt vielleicht doch einfach wieder ins Bett legen?»
«Natürlich! Unbedingt! Ich habe dir doch gleich gesagt, dass du zu krank für die Waschküche bist. Aber auf mich hört ja niemand.»
Henriette drückte dankbar Idas Hand. Obwohl Ida erst fünfzehn war, benahm sie sich wie eine Beschützerin. Sie war viel mehr als nur eine Freundin, sie war eine mütterliche, gute Seele, und Henriette fragte sich, wie es ihr gelungen war, sich ihr frohes Gemüt zu bewahren mit einer solch harten Mutter. Ihre eigene Mutter war immer weich gewesen, immer gütig. Bis auf ein oder zwei Gelegenheiten, wo sie gemeint hatte, Henriette erziehen zu müssen. Bis auf die Zeit, seit sie von Charlie erfahren hatte. Seitdem war sie anders geworden.
«Danke, Ida.»
«Ach, Unsinn!»
Als Ida am Abend auf ihr gemeinsames Zimmer kam, war es schon dunkel, und Henriette schälte sich mühsam aus einem tiefen, erschöpften Schlaf. Sie erinnerte sich an keine Träume, nicht einmal an fiebrige, und sie konnte sogar von dem köstlich säuerlichen Apfelmus essen, das Ida ihr mitgebracht hatte. Sie fühlte sich erstaunlich gut.
«Ist die Violine …?»
«Sicher versteckt,
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