Kaltgeschminkt (German Edition)
länger als drei Minuten meiner Zeit stehlen. Oder mich gar in ein anderes Land verschleppen wollen. »Nacht«, murmle ich und gehe nach unten. Dann mache ich mich daran, abzuräumen und blicke hypnotisiert in die sterbenden Flammen, bis die polternden Schritte oben abebben und er aufhört, an den anderen, verriegelten, Türen zu rütteln. Dann gehe ich in den nördlichen Trakt, um noch ein wenig an dem erschlagenen Mädchen zu arbeiten. Ich bearbeite beinahe ausschließlich gewaltsam verstorbene Leichname; das liegt an dem rauen Umgang hier. Meine Gedanken wandern zu James Beastly. Sein Name wird oft geraunt unter den Bestattern. Es heißt, er hat besondere Gönner. Es heißt, er nimmt nur spezielle Aufträge an. Scheinbar ist nun für mich die Zeit gekommen, um zu erfahren, welche das sind. Was ich bereits weiß, ist Folgendes: Seine Leichen sind nie von niederer Herkunft – und selten friedlich von uns gegangen.
Angeblich bekommt er seine Aufträge von einem unsichtbaren Boten. Wem der Wind Briefchen schickt, auf denen ein knapper Auftrag steht, gehört wohl dazu. Wozu auch immer. Einem Bund, einer Vereinigung oder einem speziellen Kreis von Bestattern, die irgendwelchen ominösen Spielchen frönen. Entweder hat man sich wohl irgendwie etabliert, oder man ist zu blöd, den eigenen Tod wirkungsvoll zu inszenieren und läuft stattdessen mit offenen Augen in einen teuflischen Pakt, weil man am Rande der eigenen Existenz als Bestattungsgehilfe kein Licht mehr am Ende der Kanalisation gesehen hat. Da gibt es bestimmt nicht viele. Eigentlich … nur mich. Vielleicht werde ich deshalb gebeten, mit ihm in die Freie und Hansestadt Hamburg zu reisen. Normalerweise habe ich nicht vor, Schottland je zu verlassen. Hier kenne ich mich aus und liebe seine Sitten und Menschen. Ich kenne die Schrullen der Leute und das Bier. Ein teuflischer Bestatter zu sein, ist nicht meine Berufung. Die gewaltsam gestorbenen Opfer machen meine Arbeit auch nicht unbedingt leichter. Zusätzliche Flickarbeiten und das Schminken sind schwer, wenn der Verwesungsprozess erste einmal begonnen hat. Manchmal muss ich Frisur oder gewünschte Kleidung ändern, wenn es zu unschön ist. Oder der Wunsch nach einem offenen Sarg ist nicht umsetzbar. Natürlich kommt es darauf an, was von den Hinterbliebenen gewünscht wird. Dann kann es sehr schnell sehr schwierig werden.
Es steckt ein Kuvert in ihrem aufgedrehten Haar. Sie ist blutjung, beinahe noch ein Mädchen. Hier steht in hauchfeiner Schrift auf fliederfarbenem, parfümiertem Büttenpapier (ja, glauben Sie es ruhig):
Unsere geliebte Tochter – in jeder Hinsicht.
Mina Sophie Knightley
(Bibliotheksgehilfin)
Sie liebte es zu tanzen und das alljährliche Halloween.
Ein wenig seltsam, vor allem die erste Zeile. Doch im Krieg, im Tod und in der Liebe … Sie wissen schon.
Ich betrachte sie lange. Langsam beuge ich mich im donnernden Blitzgewitter über die kalte junge Frau. Ich sage niemals Körper oder Leiche, während ich präpariere. Das ist mir zuwider, und etwas Menschlichkeit möchte ich mir erhalten so gut es eben geht. Wenn ich für Sie, die geheimnisvollen Auftraggeber, arbeiten soll, wie sie es mir unlängst androhten, muss man das, denn das Opfer ist mir sonst zu groß. Warum ich für Sie arbeiten würde? Wenn doch das Opfer so groß ist? Gute Frage. Weil ich ganz einfach und ohne zu fragen den Pakt mit dem (nur sprichwörtlichen) Gehörnten eingegangen bin, als ich vor einem Jahr mit einem Bein und einem halben im Todestümpel stand. Und alles ist besser als so zu sterben, und vor allem: zu wissen, welchen Weg man anschließend nehmen wird. Glauben Sie mir, Sie hätten das gleiche für sich getan.
Noch habe ich keinen absonderlichen Auftrag aus dem Jenseits erhalten (haha, darüber kann ich immer freudlos lachen!). Scheinbar haben sie mich vergessen, was mich nicht wundert, bei so vielen unlauteren Verträgen in Abwesenheit eines Anwalts, die sie täglich abschließen. Mittlerweile verdränge ich auch die Gefahr, dass meine ›Erretter‹ doch noch ihren Sold fordern könnten. Ob der Klient will oder – wie in meinem Fall – eher nicht. Außerdem bin ich niemand, an den man sich ständig erinnern möchte. Dafür bin ich zu ungesellig und menschenverachtend. So viele Körper lagen schon auf meinem Tisch. Alles Opfer ihrer eigenen Rasse oder verkümmerte Seelen, die zu früh abspringen wollten. Ich erinnere mich, mein erster Auftrag als Selbständiger segelte mit einem Windhauch unter
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