Kaltherzig
verbotswidrig auf der anderen Straßenseite und saß einfach nur da. Wenn ich noch vierzehn Minuten sitzen blieb, würde ein Streifenwagen vorbeikommen, und der Uniformierte darin würde mich schikanieren, weil ich offensichtlich nicht hierhergehörte. Mein rechter Mundwinkel zuckte zu einer Art ironischem Lächeln nach oben.
Ich hatte seit fast zwei Jahrzehnten keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt. Ich war nicht einmal daran vorbeigefahren. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, auf der anderen Straßenseite im Wagen zu sitzen und zum Tor hineinzuschauen. Absolut nichts hatte sich hier verändert. Es war, als würde ich in die Vergangenheit blicken. Ich erwartete halbwegs, mich selbst mit zehn, fünfzehn, einundzwanzig aus dieser hohen, schwarzen Doppeltür kommen zu sehen.
Mit einundzwanzig war ich aus dieser Tür gekommen und nie wieder zurückgekehrt.
Einer meiner Eltern fuhr dieser Tage ein schwarzes Bentley-Cabrio. Es stand unter dem Vordach. Wahrscheinlich
mein Vater. Meine Mutter hatte die Sonne immer verabscheut und sich in Seide und Chiffon gehüllt, um jeden Zentimeter Haut zu verbergen, bis sie aussah wie eine von Valentino entworfene Mumie. Mein Vater war immer braun gebrannt und fit, spielte Golf und Tennis und steuerte sein eigenes Oldtimer-Rennboot bei Wettkämpfen auf dem Lake Worth.
Ich fragte mich, was er tun würde, wenn er aus dem Haus käme, in seinem Bentley aus dem Tor fahren würde und mich hier sitzen sähe. Würde er mich überhaupt erkennen? Als er mich das letzte Mal gesehen hatte, hatte ich eine lange, wilde Mähne aus schwarzem Lockenhaar gehabt, mein Gesichtsausdruck war wütend gewesen, und zu meinem Entsetzen waren mir Tränen in die Augen gestiegen.
Vor einem Jahr hatte ich mein Haar in einem Wutanfall jungenhaft kurz geschnitten und es so gelassen. Ich trug den unveränderlichen, sorgsam neutralen Gesichtsausdruck zur Schau, den mir die plastischen Chirurgen nach fast zwei Jahren Wiederherstellungschirurgie verliehen hatten. Und ich war physisch nicht mehr in der Lage zu weinen.
Als der selbstbezogene Narziss, der er war, würde er wahrscheinlich nur eine herumlungernde Person in mir erkennen. Er würde sein Handy hervorholen und die Kurzwahltaste für die Polizei drücken, während er weiterfuhr.
Meine Mutter hatte mich nach meiner Begegnung mit dem Asphalt unter Billy Golams Vierradantrieb im Krankenhaus besucht. Nicht weil ich sie angerufen hatte. Nicht weil sie meine Mutter war und mich im Auge behalten hatte. Sie war gekommen, weil ihre Haushälterin in einem
Bericht über den Zwischenfall in der Palm Beach Post meinen Namen gesehen und gefragt hatte, ob ich eine Verwandte sei.
Helen war mich besuchen gekommen, aber sie hatte nicht gewusst, was sie tun oder sagen sollte, als sie da war. Ich gab ihr einen Punkt für den Versuch mütterlichen Verhaltens, auch wenn sie nur eine flüchtige Vorstellung von der Idee dahinter besaß. Ich wies keine Ähnlichkeit mit der Tochter auf, an die sie sich erinnerte. Weder äußerlich noch anderweitig. Ich war beinahe so lange schon wieder aus ihrem Leben verschwunden gewesen, wie ich mich darin befunden hatte.
Sie hatte sich so unwohl gefühlt, dass ich nach einer Viertelstunde vorgab einzuschlafen, damit sie gehen konnte.
Ich fragte mich nun, wieso ich hierhergekommen war. Reichte es nicht, dass diese alten Erinnerungen durch die Narben brachen, die sie bedeckten? Musste ich persönlich hierherkommen, um den Schmerz zu verschärfen?
Anscheinend.
Welch seltsame Ironie, dass Irinas Tod irgendwie mit meiner Vergangenheit verquickt zu sein schien, und dass ich mich, um Irina zu helfen, dieser Vergangenheit stellen musste, was ich mein ganzes Erwachsenenleben lang vermieden hatte.
Ich startete den Wagen und fuhr los. Nach Hause.
9
Der Tag war fast vergangen, als ich auf die Farm zurückkam. Die Pferde, die nichts davon wussten, wie er verlaufen war, und die es nicht interessierte, hatten Hunger. Fahrzeuge des Sheriffbüros standen überall auf dem Hof herum, darunter der Wagen, den Landry gefahren hatte. Sie waren oben in Irinas Wohnung und taten das Gleiche, was ich Stunden vor ihnen getan hatte.
Ein Deputy hielt mich auf, als ich zur Scheune kam.
»Tut mir leid, Madam, hier ist gerade eine Ermittlung im Gange. Sie können nicht hinein.«
Ich sah ihm direkt in die Augen. »Ich kann und ich werde hineingehen. Mir gehören diese Pferde«, log ich, »und sie müssen gefüttert werden. Wollen Sie verantwortlich sein, falls eins
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