Kalymnos – Insel deines Schicksals
Spaziergängen durch das Dorf gekommen war, umso mehr gewöhnten sich die Bewohner an ihren Anblick. Und wenn Julie jetzt, je nach Tageszeit, mit einem freundlichen „kalimera" oder „yassoo" grüßte, dann konnte es passieren, dass sie zu einer Tasse Kaffee oder einem Glas selbst gemachter Limonade in den Garten oder sogar ins Haus gebeten wurde.
So war es nicht verwunderlich, dass Julie sich inzwischen richtig dazugehörig fühlte und ihr Land und Leute ans Herz gewachsen waren. Manchmal wunderte sie sich selbst, wie schnell das gegangen war - vor allem, wenn sie daran dachte, unter welchen Umständen sie hierher gekommen war.
Mittlerweile fühlte sie sich, aller Armut zum Trotz, in der sie lebten, derart bereichert durch die Begegnung mit Doneus, dass sie sich insgeheim fragte, wie es wohl wäre, wenn sie sich Ostern für fünf lange Monate trennen würden. Am Anfang hatte sie diesen Tag geradezu herbeigesehnt. Inzwischen empfand sie jedoch so starkes Mitleid mit Doneus, dass sie ernsthaft bezweifelte, sie könnte ihren Aufenthalt in England überhaupt genießen, wenn er sich gleichzeitig in Lebensgefahr begab.
„Kalimera, Madam Doneus!" Julie schlenderte gerade durch das Dorf, als Asteros freundliche Stimme an ihr Ohr drang.
„Kalimera, Astero", erwiderte sie den Gruß und blieb stehen. „Wie geht es Ihnen?"
„Hervorragend", bekam sie zur Antwort. „Gestern bin ich Großmutter geworden.
Wollen Sie sich meinen Enkel nicht ansehen?"
Gern nahm sie die Einladung an und betrat das Haus. Kyria, die junge Mutter, hatte das Bett bereits wieder verlassen. Sie saß auf einem Stuhl, in den Armen hielt sie ihr Neugeborenes und gab ihm die Brust. Wie glücklich sie aussah!
„Mrs. Doneus - ich freue mich, dass Sie gekommen sind, um sich unseren kleinen Yannis anzusehen. Er ist genau sechzehn Stunden alt."
Julie beugte sich zu ihm hinunter und streichelte ihm behutsam die Wange. Er war ganz schön pummelig und hatte schwarzes, ziemlich kräftiges und lockiges Haar.
„Was für ein niedlicher kleiner Kerl, Kyria. Du hast allen Grund, stolz und glücklich zu sein."
„Das bin ich auch." Das Mädchen strahlte sie an. „Vor allem, weil es ein Junge geworden ist."
Kyria war wirklich noch ziemlich jung für eine Mutter, und Yannis war ihr erstes Kind. Es war ja erst ein knappes Jahr her, dass sie und Adonys geheiratet hatten, aber von nun an würde sie jedes Jahr ein Kind bekommen ...
„Möchten Sie etwas Limonade?" fragte Astero und hielt Julie ein gefülltes Glas hin.
„Wir wollen auf meinen Enkelsohn anstoßen."
„Aber gern." Wie der Brauen es wollte, tranken sie ihr Glas in einem Zug aus. Kaum hatte Julie das Glas wieder abgestellt, fragte Kyria: „Möchten Sie Yannis mal halten?"
Julie nahm ihr das kleine Bündel vorsichtig aus dem Arm und betrachtete das schlafende Kind. Wie sehr sie dieser Anblick faszinierte! Mehrere Minuten verstrichen, in denen sie mit einem Gefühl konfrontiert wurde, das zwar nicht neu, aber dafür überraschend heftig war. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich gewünscht, später selbst einmal Kinder zu haben, und auf einmal war es, als würden sie vor ihr stehen: zwei Jungen und zwei Mädchen, die vom ersten Tag ihres Lebens an all die Annehmlichkeiten genießen sollten, die der Wohlstand mit sich brachte. Später würden sie zur Schule gehen
- natürlich auf eine Privatschule, nur die beste käme infrage -, und dann würden sie Karriere machen. In welchem Beruf, war nicht so wichtig.
Urplötzlich kam Julie ein entsetzlicher Gedanke, und für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, als könnte sie so den Schmerz darüber verdrängen, dass alles nun ein Traum bleiben musste.
Als sie am Abend mit Doneus beim Essen saß, erzählte sie ihm von Kyrias Baby. „Es ist so niedlich", sagte sie voller Begeisterung, und Doneus sah sie lange und ausdrucksvoll an, bis Julie den Blick senkte. Sie hielt es immer noch nicht für ausgeschlossen, dass er in ihren Augen lesen konnte.
„Freunde von mir haben uns für morgen Abend zum Essen eingeladen", wechselte Doneus unvermittelt das Thema.
„Kenne ich sie? Und wo wohnen Sie?" fragte Julie voller Vorfreude.
„Du kennst sie nicht, und sie leben dort hinten." Er zeigte zu der prächtigen Villa, die auf einem kleinen Plateau am Hang hoch über dem Schloss errichtet worden war. Von hier aus sah sie fast wie eine Puppenstube aus, aber auf ihren Spaziergängen hatte Julie sich davon überzeugen können, wie vornehm und edel sie in
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