Kammerflimmern
ist sie hellwach, aber diese Momente sind leider sehr selten.«
»Verstehe«, murmelte Lenz und betrachtete noch einmal das Bild in seiner Hand.
»Kann ich das behalten?«
»Wenn es Ihnen weiterhilft, ja. Ich werde meine Mutter leider nicht so in Erinnerung behalten können, wie sie auf dem Foto aussieht, deshalb macht es mir nichts aus, es herzugeben. Außerdem haben wir eine Menge Bilder von ihr aus Zeiten, als sie noch nicht erkrankt war.«
Der Kommissar dankte ihr und wandte sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um.
»Wie lange …?«
Weiter kam er nicht, weil sie vermutlich auf seine Frage gewartet hatte; zumindest erschien es ihm so.
»Tage, nicht länger. Ich sehe in der Nacht alle zwei Stunden nach, ob sie noch atmet, und Sie können mir glauben, dass ich ihr manchmal wünsche, es nicht mehr tun zu müssen.«
Damit brachte sie die beiden Polizisten zur Tür und verabschiedete sich.
»Alles Gute für Sie, Frau Kolb.«
»Danke, Herr Kommissar.«
24
Noch im Hausflur griff Lenz zum Telefon und wählte die Nummer von Rolf-Werner Gecks, doch dessen Anschluss war besetzt. Er beendete das Gespräch und wählte erneut.
»Franz«, meldete sich sein Gesprächspartner.
»Hallo, Herr Doktor Franz, hier ist Lenz.«
»Sie schon wieder. Gibt es neue Leichen?«
Der Kommissar hatte offensichtlich einen der seltenen Momente erwischt, in denen der Rechtsmediziner zum Scherzen aufgelegt war. Lenz war es nicht.
»Eine kurze Frage, Herr Doktor. Es geht um die ältere der beiden toten Frauen. Fehlt ihr die Kuppe eines kleinen Fingers? Ob links oder rechts, kann ich leider nicht sagen.«
»Die Fingerkuppe des linken kleinen Fingers fehlt bei dieser Dame, das stimmt«, antwortete der Mediziner, ohne lange zu überlegen. »Allerdings schon seit längerer Zeit, wie es aussieht.«
»Das weiß ich. Ich wollte nur sichergehen, vielen Dank.«
Er steckte das Telefon zurück in die Jacke. Hain sah ihm mit verständnislosem Gesichtsausdruck dabei zu.
»Mein lieber Thilo, wir sind nach allen Regeln der Kunst verladen worden.«
Hains Miene wurde um keine Regung intelligenter.
»Die Frau, die uns in Goldbergs Büro aufgetischt hat, sie sei Anna Hohmann, liegt mit Siegfried Patzkes vorgeblicher Freundin zusammen im Wald. Und ich bin mir ganz sicher, dass die ältere die echte Roswitha Krauss ist und die Wohnung in der Friedrich-Ebert-Straße angemietet hat.«
»Woher weißt du von dem Finger?«
»Der ist mir aufgefallen, als wir in meinem Büro saßen und sie mich mit ihrer Heulerei eingewickelt hat.« Er presste die Augen zusammen und kräuselte die Nase.
»Glaub mir, wenn ich dazu fähig wäre, würde ich mich in Grund und Boden schämen.«
Hain machte eine abwehrende Geste.
»Ich denke gerade über die Szene nach, als sie an die Bürotür geklopft hat, Paul«, entgegnete er. »Wir saßen mit vier Mann da drin. Wenn es wirklich geplant war, muss sie das gewusst haben. Wie viel Mut braucht man, um vier gestandene Bullen dermaßen zu verarschen?«
Lenz verzog säuerlich das Gesicht.
»Vier saublöde Bullen. Einer dümmer als der andere, wobei ich Heini und seinen Kollegen mal ausdrücklich in Schutz nehmen will.«
»O. K., aber denk doch mal nach. Woher sollte sie denn wissen, dass wir da drin waren?«
»Durch die Wanzen, Thilo. Vermutlich hat jemand am anderen Ende mitgehört, bis die Jungs von der Spurensicherung die Dinger gefunden haben. Dass wir noch dazugekommen sind, machte die Sache auch nicht schlimmer. Sie wurde in Marsch gesetzt, um uns die Geschichte von Siegfried Patzke und Wolfgang Goldberg aufzutischen. Das war ihr einziger Auftrag. Und wenn der Sturm nicht dazwischengekommen wäre, der den guten Siggi wieder ans Tageslicht beförderte, würden wir vermutlich heute noch nach ihm als dem Mörder von Goldberg suchen.«
»Alles gut und schön, Paul, aber rechtfertigt das ihr Vorgehen? Immerhin ist sie ein geradezu abenteuerliches Risiko eingegangen. Was wäre zum Beispiel gewesen, wenn irgendjemand sie gefragt hätte, was sie denn bitte in den heiligen Hallen der IHK zu suchen hat?«
Der Oberkommissar kam nun richtig in Fahrt.
»Was, wenn euch auf dem Weg zum Präsidium Frommert oder Roll auf der Treppe begegnet wäre und sie keinen der beiden gekannt hätte?«
Lenz musste sich nicht um eine Antwort bemühen, die reichte Hain gleich nach.
»Nein, Paul, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand ein solches Risiko eingeht.«
»Es fällt mir auch schwer, es zu glauben,
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