Kammerflimmern
sich manchmal nachts, wenn er nicht schlafen konnte, vertiefte. Dann hielt er ein Bild in den Händen, aus der Zeit, als Mama siebzehn Jahre alt und einfach nur groß und üppig gewesen war. In ihrem Gesicht war sie wirklich vorhanden, in der geraden Nase, die ein wenig nach oben zeigte und die David geerbt hatte, und in den dunklen Mandelaugen, die gegen dreifache Liderwülste kämpften, um sich in ihrer paradoxen Schönheit zeigen zu können. Mama war in den weichen rosa Lippen vorhanden, die ihn jeden Abend auf die Wange küssten, wenn er den Raum mit dem spezial konstruierten Stahlbett betrat, ehe er in sein eigenes Zimmer stapfte und ins Bett ging.
Papa weinte und packte David an der Schulter.
Mama starrte leer zur Decke hoch. Papa schluchzte und quetschte Davids Schulter zusammen. Die Jungen lachten. Mama starrte und starrte, und David rannte endlich los.
Er rannte an diesem Abend so weit, dass die Polizei ihn erst drei Tage später fand.
Der Wachmann sagte etwas.
David konnte das nicht hören. Er hörte wirklich nichts. Er spürte nur den schweren Griff um seine Schulter und wusste, was passieren würde. Diesmal konnte er nicht davonlaufen.
Er richtete sich auf und drehte sich zu dem Wachmann um. »Charlie«, sagte David Crow grinsend. »Willst du mich etwa festnehmen? Und ich dachte, ich hätte einen ganz normalen Tag beim Job.«
Er hielt Charlie die Handgelenke hin und ballte ein wenig die Fäuste. Als Charlie, ohne auf diesen Sarkasmus zu achten, ihn jetzt um den mageren Oberarm packte, zuckte David mit den Schultern.
Zusammen gingen sie zum Büro des Sicherheitsdienstes, ganz hinten neben dem vierfachen Fahrstuhlschacht. Der riesige Charlie einen halben Schritt hinter dem schmächtigen Dreiundzwanzigjährigen mit dem flackernden Blick.
Für einen Moment hatte David sich verwirren lassen, als er Charlies Hand auf der Schulter gespürt hatte. Er war außer sich vor Angst gewesen, das musste er zugeben, geschlagen von der lähmenden Gewissheit, dass alles vorbei war.
Wie damals, als Mama an seinem elften Geburtstag die Treppe hinuntergefallen und er vor dem Lachen der Jungen weggelaufen war.
Dann wurde er wieder er selbst.
Als er aus dem Augenwinkel sah, wie Peter Adams sich mit einer Miene der Enttäuschung und der reservierten Kälte näherte, grinste David ein weiteres Mal.
»As if« , murmelte er und fing an, sich eine Geschichte zusammenzukochen, die ihn wieder mal aus der Klemme ziehen würde.
David William Crow jr. war nämlich das junge Genie, ohne das niemand bei Mercury Medical zurechtkam.
Donnerstag, 6. Mai 2010
7.02 Uhr
GRUS, Bærum
Als die Krankenschwester das leere Bett sah, war sie nicht einmal besorgt. Der Patient war auf dem Weg der Besserung. Am Vorabend war er durch die Gänge gewandert. Er hatte sich im Fernsehzimmer die Nachrichten angesehen, hatte sich freundlich mit anderen Patienten unterhalten und war früh und ohne Schlafmittel eingeschlafen. Jetzt war er vermutlich zur Toilette gegangen.
Für einen Moment blieb sie stehen.
Im Bad nebenan war es still.
Die Toilettengegenstände lagen auf dem Nachttisch. Sie stellte ein leeres Glas auf einen Teller mit Krümeln und einem kleinen Klecks Marmelade, überlegte es sich dann anders, ließ das schmutzige Geschirr stehen und schob die Hand ganz leicht in das ungemachte Bett.
Noch warm.
Im Bad war es weiterhin ganz still.
»Hallo«, sagte die Krankenschwester und legte das Ohr an die brandrote Tür. »Erik Berntsen? Sind Sie da?«
Als keine Antwort kam, trat sie einen halben Schritt zurück. Das digitale Display zeigte, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Sie legte die Hand auf die Klinke. Die Tür öffnete sich.
Das Badezimmer war leer. In und vor der Dusche war alles trocken. Der Geruch des Morgenurins ließ sie in die Toilettenschüssel schauen. Der Patient hatte sich am Morgen immerhin entleert. Mit einer vagen Grimasse des Abscheus zog sie ab.
Dann machte sie sich daran, das Zimmer zu durchsuchen. Die Kleider des Patienten waren verschwunden. Das Mobiltelefon, das er auf dem Krankenhausgelände nicht hätte benutzen dürfen, wie sie ihm mehrmals klargemacht hatte, war auch nirgendwo zu sehen. Er hatte spöttisch gelächelt und behauptet, es gebe keinerlei Beweise dafür, dass Mobilstrahlung die empfindlichen Instrumente in einem Krankenhaus stören könnte, aber für sie war eine Regel eine Regel und musste befolgt werden, egal, was ein alter Professor dazu sagte.
Als sie die doppelte Schranktür am
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