Kammerflimmern
zu kleinen Schreibtischsessel vor Tobias’ Schreibtisch. »Und es muss ganz schnell gehen.«
»Da liegt alles«, sagte sie und zeigte darauf.
Rasch zeichnete Ola ein Oval und teilte es dann in vier Felder. »Das ist dein Herz«, sagte er. »Und es hat vier Kammern, das habe ich dir ja schon mal erklärt. Damit dein Herz schlagen kann, muss es dazu aufgefordert werden. Das geschieht durch einen winzigen elektronischen Impuls ...«
»Was ist ein Impuls, Papa?«
»In diesem Fall ist das ein kleiner Stoß. Wir nennen das einen pace. «
»Einen Pehs. So wie beim Auto?«
»Nein, mit PS hat das nichts zu tun. Es geht um Strom. Wir haben Strom. In unseren Zellen ...«
Er schluckte.
»Ich hab es eilig, Herzchen. Aber hör jetzt zu. Diese beiden Kammern hier ...«
Er zeigte auf die oberen Felder. »Die heißen rechte und linke Vorkammer. Sie haben die Aufgabe, das Blut zu pumpen, und zwar hierher ...« Der Bleistift tippte auf die beiden Hauptkammern. »... sodass diese großen Räume das Blut durch den Körper pumpen können. Zuerst werden die Vorkammern aufgefordert, sich zusammenzuziehen, und gleich darauf wird das auch den Hauptkammern gesagt. Wenn ich dich an etwas koppeln könnte, was wir EKG-Gerät nennen, dann könnten wir diese Aufforderungen ungefähr so sehen ...«
Er zeichnete in aller Eile ein Elektrokardiogramm.
»Eins-zwei«, sagte er und zeigte auf die beiden deutlichen Ausschläge in der Zeichnung. »Eins, zwei. Eins, zwei.«
»Eins zwei, dickes Ei«, sagte Tara.
Ola lächelte. »So singt ein gesundes Herz«, er nickte. »Und das nennen wir den Sinusrhythmus. Aber wenn mit diesen kleinen Stößen etwas nicht stimmt, kann man zum Beispiel das hier kriegen ...«
Er zeichnete senkrechte Striche. »Das nennt man Flimmern, Schätzchen. Zwei-zwei-zwei-zwei-zwei-zwei.«
»So singt kein gesundes Herz«, sagte Tara ernst. »Aber das kannst du reparieren, Papa.«
»Das macht dann aber Sara«, er lächelte. »Und ich habe es jetzt schrecklich eilig.«
»Papa«, rief die fünfzehn Jahre alte Tuva von unten. »Du hast für mich und Theo keine Brote gemacht!«
»Die liegen schon in euren Schultaschen«, antwortete Ola Farmen und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Und jetzt kommst du her und hilfst mir bei den Zwillingen. Mama hat die ganze Nacht gekotzt und ...«
Er hätte vor einer halben Stunde bei der Arbeit sein müssen. Die Vorstellung, schon wieder zu spät zur Morgenbesprechung zu kommen, war unerträglich. Es wäre das fünfte Mal in diesem Monat. Er hätte sich nicht die Zeit für Tara nehmen dürfen, aber da sie das einzige Kind war, das auch nur das geringste Interesse für seine Arbeit aufwies, hatte er der Versuchung nicht widerstehen können.
»Das da?«, fragte Tobias und breitete die Arme aus.
Der Junge hatte eine schwarze Jeanshose, die zwei Nummern zu klein war, und ein schwarzes T-Shirt angezogen, das entsprechend zu groß war. Er sah aus wie ein trotziger Teenie mit Hang zur Gothic-Szene. Seine Stachelfrisur war von einem lächerlichen Tuch bedeckt, ebenfalls schwarz, während die graue Libelle aussah wie direkt auf den Schädel gemalt. Die Libelle weinte Blut, vier knallrote Tropfen, und das war die einzige Farbe an dem Siebenjährigen.
»Hidschab-Tobias«, kicherte Tara und schlug ihm gegen den Hinterkopf.
»Hör auf«, sagte Ola. »Geht jetzt beide frühstücken.«
»Du kannst von mir aus fahren.«
Guro stand in der Schlafzimmertür. Ihre Lider waren geschwollen und die Lippen so blass, dass sie mit der weißen Gesichtshaut fast verschwammen.
»Geh wieder schlafen«, murmelte Ola. »Ich mach das schon.«
»Du fährst jetzt«, sagte sie mit resigniertem Lächeln. »Ich kann jetzt weitermachen. Du kommst viel zu oft zu spät zur Arbeit. Geh.«
Sein Zögern war aufgesetzt, und er wusste, dass er durchschaut war.
»Danke«, sagte er deshalb, statt zu protestieren. »Du bist ein Engel.«
Sie wich zurück, als er in aller Eile versuchte, sie zu küssen.
»Ich hab mich die ganze Nacht erbrochen, Ola.«
»Dann besser nicht. Und erinnere mich daran, warum wir uns so viele Kinder zugelegt haben. Ein andermal, meine ich.«
Er brachte die Treppe mit vier Sprüngen hinter sich und hatte das Haus verlassen, ehe ein Kind ihn mit Fragen oder Gequengel aufhalten konnte. Wenn er alle Verkehrsregeln missachtete, konnte er es doch zur Morgenbesprechung schaffen. Sich gerade an diesem Tag Sara Zuckermans stumme Vorwürfe zu ersparen würde das Leben ein wenig
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