Kammerflimmern
Schwingung, die er gut genug kannte, um das Thema zu wechseln.
»Ja«, sagte er trotzdem wütend. »Du hast jede Menge Geld und keine Ahnung, wie das ist mit fünf anspruchsvollen Kindern, und wenn das doch nicht reicht, hast du noch immer einen ›Vetter in Amerika‹!«
Als er die Anführungszeichen in die Luft zeichnete, bereute er es schon.
Sara hatte ihm von Jerrys Anruf erzählt, als sie im Schneckentempo über die E 6 nach Norden gefahren waren. Ola war ihm einmal begegnet, bei einem Grillabend bei Sara und Thea im vergangenen Sommer. Der Mann war charmant, offen und unverkennbar von diskretem Reichtum geprägt.
»Genau«, sagte Sara und nickte langsam. »Reich. Wohlhabende Verwandte. Und immer einen Vetter in Amerika.«
Sie riss die Tür auf. Dann beugte sie sich noch einmal herein und musterte ihn mit dem kältesten Blick, der ihn je getroffen hatte. »Demnächst wirst du mir mit der Theorie der großen jüdischen Weltverschwörung kommen.«
»Nein!«, sagte er verzweifelt und hob die Hände. »So war das nicht gemeint, Sara!«
Die Tür wurde zugeschlagen.
»Verdammt«, fauchte er und riss seine eigene Tür auf.
Sara kämpfte mit dem Deckel des Kofferraums.
»Ich helfe dir«, sagte Ola.
»Bleib mir vom Leib«, fauchte sie. »Wir kommen allein zurecht, weißt du. Wir scheißen auf den Rest der Welt und kommen allein zurecht.«
»Hör auf«, sagte er so laut, dass andere sie anstarrten. »Jetzt ist aber Schluss, Sara!« Er öffnete den Kofferraum und hob den Koffer heraus. »Jetzt bist du ungerecht«, sagte er leise, als er den Koffer auf den Boden gestellt hatte. »Total ungerecht.«
»Nein, bin ich nicht. Aber setzen wir einen Schlusspunkt hinter diesen Unsinn. Ich hab es eilig.«
Sie packte ihren Rollkoffer und lief los.
Ola blieb ans Auto gelehnt stehen und beobachtete die kleine Gestalt, die mit entschiedenen Schritten und einem tanzenden knallroten Koffer auf Rädern hinter sich auf die Karusselltüren zulief und dann verschwand.
23.45 Uhr
Kirkeveien beim Ullevål Krankenhaus, Oslo
Dafür, dass es eine so kalte Nacht war, trug der Mann an der Ampel vor dem Haupteingang zum Universitätskrankenhaus Ullevål sehr leichte Kleidung: nur ein T-Shirt über zu weiten Jeans und keine Strümpfe in den zu großen Sandalen. Seltsamerweise schien er sich verstecken zu wollen: Er presste sich an den Metallpfosten, mit geradem Rücken und hochgezogenen Schultern. Niemand stand in seiner Nähe, aber dennoch redete er ununterbrochen, mit nur kleinen Pausen, in denen ihm ein imaginärer Gesprächspartner zu antworten schien.
Ein Bus kam von Westen her auf der Busspur angefahren.
Die Fahrerin sah die Ampel, ehe sie die Kreuzung erreichte. So spät am Abend war nicht viel Verkehr, und der Kirkevei streckte sich gerade und übersichtlich am südlichen Zaun um das Krankenhausgelände dahin. Da noch immer Rot war, als der Bus siebzig Meter von der Kreuzung entfernt war, konnte sie kaum schneller als dreißig Stundenkilometer fahren.
Die Ampel sprang auf Grün, als es noch fünfzig Meter waren.
Die Fahrerin beschleunigte. Niemand wartete an der Straße, würde sie der Polizei später sagen, atemlos und erschüttert. Niemand war zu sehen, bis dieser Mann auf die Straße schoss, im wahrsten Sinne des Wortes, er ließ sich mit dem Kopf zuerst vor den Bus fallen.
Die Fahrerin trat auf die Bremse, und als ihr eine Sekunde später aufging, was geschehen war, schaltete sie in den Leerlauf und zog die Handbremse, ehe sie aus dem Bus stürzte. Der Anblick, der sich ihr bot, als sie in die Hocke ging, ließ sie rückwärtstaumeln. Ein Vorüberkommender konnte sie gerade noch auffangen.
»Es war Grün«, jammerte die Fahrerin. »Ich bin bei Grün gefahren!«
»Ich habe alles gesehen«, sagte ihr Retter erregt und hielt sie fest. »Es war nicht Ihre Schuld. Ich habe alles gesehen.«
Sie versuchten nicht, dem Mann unter dem Bus zu helfen. Das versuchten auch die anderen nicht, die jetzt zusammenströmten, einige aus dem Bus, andere vom Krankenhaus her und noch andere von der anderen Seite des Kirkevei.
Niemand rührte ihn an.
Auch der Arzt, der zwei Minuten später vom Krankenhaus hergelaufen kam, unmittelbar vor Eintreffen der Polizei, tat nichts, als er das sah, was alle anderen gesehen hatten: Der Kopf des Mannes lag unter dem Reifen eines 22 Tonnen schweren Busses.
»Ich bin bei Grün gefahren«, schrie die Fahrerin immer wieder. »Ich bin bei Grün gefahren, und ich bin nicht zu schnell
Weitere Kostenlose Bücher