Kammerflimmern
Chaos in den überfüllten Regalen, wurde ihm klar, dass ihm der Junge vor allen Dingen leidtat. Irgendwo hatte er gehört, dass David nach einer Familientragödie mit zehn, zwölf Jahren in eine Pflegefamilie gekommen war. Der Pflegevater hatte sofort erkannt, dass der Junge über ungewöhnliche Fähigkeiten verfügte, und hatte ihn offenbar mit allem zusammengebracht, was in avancierter Computertechnologie Rang und Namen hatte. Ansonsten hatte er David vernachlässigt.
Ein wenig leid tat er sich auch selbst. Er musste schließlich einen Ersatzmann finden. Und im Moment hatte er keine Ahnung, wo der zu finden sein sollte.
Vermutlich nirgendwo.
Freitag, 7. Mai 2010
9.30 Uhr
GRUS, Bærum
Der Pathologe hatte eine schnarrende Stimme, die durch die schlechte Verbindung noch schnarrender wurde. Er schien im Rikshospital in einer Grotte zu sitzen, und Sara Zuckerman hätte ihn fast gebeten, von einem anderen Telefon aus anzurufen.
»Das Ergebnis ist relativ klar«, sagte der Mann trocken. »Jedenfalls vorläufig: frischer Herzinfarkt. Wie erwartet eigentlich.« Den Hörer zwischen Wange und Schulter geklemmt, fingerte sie an einem Brieföffner mit Silberschaft herum. Der Schaft war fein ziseliert, und sie ließ den Zeigefinger über das Schlangenmuster fahren, ehe sie vorsichtig die Spitze der Klinge berührte. Immer fester drückte sie damit gegen ihre Haut.
»Ganz deiner Ansicht«, sagte sie leise.
»Und nach dem, was du mir eben erzählt hast«, sagte die schnarrende Stimme, »kann ich dir vermutlich mit der Mitteilung eine Freude machen, dass es keinerlei Anzeichen für eine Tamponade gibt.«
Der scharfe Stahl bohrte sich durch die Haut. Sara legte den Brieföffner weg und starrte die kleine Blutperle an, die langsam größer wurde.
Sie wusste nicht, was sie empfand. Erleichterung, vielleicht, jedenfalls für einen Moment, ehe sie sich schämte, weil sie überhaupt befürchtet hatte, Eriks Tod könne ihre Schuld sein.
Der Pathologe schnarrte weiter: »Berntsen war scheinbar koronargesund, man kann das hier also als leicht unerwartet bezeichnen. Aber so ist das Leben. Der Mann war ja auch nicht mehr der Jüngste. Wir haben keine Anhaltspunkte für zerebrovaskuläre Katastrophen oder Lungenembolie gefunden.«
»Was ist mit dem ICD?«, fragte Sara.
»Ich wünschte, einer von den Elektrophysiologen hier könnte einen Blick darauf werfen. Die haben sich jedoch geweigert, etwas so ...«
Seine Stimme verschwand ein weiteres Mal. »... Intimes«, war er plötzlich wieder da. »Sie wollten einen alten Kollegen nicht so intim betrachten. Sie haben deshalb einen Herzspezialisten von der Station geschickt. Der konnte nichts Abweichendes finden.«
Sara steckte den Finger in den Mund und schloss die Augen. Ihre Erleichterung war so groß, dass sie sie nicht mehr verleugnen konnte.
Sie hätte einen ehemaligen Liebhaber auf keinen Fall operieren dürfen. Emotionale Bindungen an einen Patienten unter dem Messer waren tabu, ob hier nun die Rede von Hass, von Liebe oder von einem Gemisch aus beidem war.
Wie in ihrem Fall.
Sie hatte kaum geschlafen.
In den Morgenstunden, als die leichten Schlafzimmervorhänge langsam rosa geworden waren und der Versuch, noch Schlaf zu finden, keinen Sinn mehr gehabt hatte, war sie aufgestanden, um für Kaare Benjaminsen einen Bericht über ihre Fehler zu schreiben. Er würde den Bericht vermutlich an die Ethikkommission des Krankenhauses weiterreichen. Bei der Vorstellung, dass Lars Kvamme diesem Rat angehörte, hatte sie eine Gänsehaut bekommen, obwohl sie in einem warmen Trainingsanzug vor dem Rechner saß.
Nach zwei Tassen Kaffee und drei übereilten Entwürfen hatte sie beschlossen, den vorläufigen Obduktionsbericht abzuwarten.
Das Atmen fiel ihr jetzt leichter.
»Berntsen muss wirklich schlimm gefallen sein«, sagte der Pathologe, aber sie hörte kaum noch zu. »Die Suturae waren gerissen. Die Wunde hatte sich ganz einfach wieder geöffnet. Aber er wurde im Wald gefunden, soviel ich weiß, und da kann er ja gestürzt sein. Wir haben mehrere Blutergüsse, die zu einem Sturz passen würden. Ich weiß ja nicht, wieso ein Mann wie Berntsen sich nur zwei Tage nach einem solchen Eingriff im Wald herumgetrieben hat, aber das ist zum Glück nicht mein Problem. Der ICD war jedenfalls unversehrt.«
Für einen Moment meinte Sara, Eriks Geruch wahrzunehmen.
Er war immer so sauber, mit einem undefinierbaren Hauch von Vanille und Pfeffer. Seine Hemden waren immer frisch gebügelt.
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