Kammerflimmern
ein Wort. Sara.
Aus weiter Ferne hörte er Lars Kvamme über eine Schwangere mit hohem Fieber und zwei Infarktpatienten schwadronieren. Das ging ihn nichts mehr an. Sein Dienst war vorüber, und er wollte nach Hause und schlafen. Aber dann fiel ihm ein, dass die Zwillinge krank waren und dass Guro sicher Ablösung brauchte.
Die Müdigkeit ballte sich um ihn zusammen, und Lars Kvammes Stimme wurde zum Singsang.
Ola schlief ein.
Als er erwachte, schaute er sich verblüfft um. Die Besprechung war vorüber. Alle waren gegangen. Er hatte fast zehn Minuten geschlafen. Immerhin war er jetzt entschlussfreudiger.
Rasch schrieb er zwei SMS. Eine lange an Guro. Eine kurze an Sara: Komme in einer halben Stunde.
8.10 Uhr
Wells Hotel, Vincent Square, London
Audun Berntsen saß in seinem Hotelzimmer und fühlte sich so einsam, wie er wirklich war. Die klein geblümten Vorhänge waren steif vor Staub und Nikotin aus der Zeit, als Rauchen noch erlaubt war, und das schlichte Bett kam ihm eher vor wie eine Pritsche. Es erinnerte ihn an die vier Höllentage beim Militär, ehe er es geschafft hatte, entlassen zu werden, weil er bei einem Marsch wie ein Kind geweint hatte. Er wurde zum Arzt geschickt. »Angst« stand im Protokoll, aber er war nur selten so erleichtert gewesen wie damals, als er in Rena seinen Rucksack gepackt und den Bus zurück nach Bærum genommen hatte. Sein Vater war außer sich vor Zorn gewesen. Der Großvater war im Krieg für die RAF geflogen und war der Sagenheld der Sippe. Der Scheißprof selbst war Leutnant und Stabsarzt gewesen und schäumte, weil seinem Sohn Eier und Rückgrat fehlten, wie er sich auszudrücken beliebte, um dann für ein ganzes Jahr zu verstummen.
Die Kopfschmerzen waren übel.
Er hatte sich bis zum Schluss der New Yorker Börse am Vorabend nüchtern halten wollen. Aber dann folgte doch ein Bier dem anderen, und ehe er sich’s versah, saß er in einer Stripteasebar und trank Whisky für Geld, das er nicht hatte.
Einen Moment lang starrte er die halb leere Schnapsflasche auf dem Nachttisch an, ohne sich erinnern zu können, woher sie kam.
Er erhob sich mit steifen Bewegungen, klappte den Laptop zu und klemmte ihn sich unter den Arm. Ein kleines Frühstück würde vielleicht helfen.
Die Londoner Börse hatte schon geöffnet, das sah er auf der digitalen Uhr unter dem kleinen Fernseher. Er klemmte sich den Laptop unter den Arm und taumelte auf die Tür zu. Auf irgendeine Weise musste er weiter nach oben kommen. Zwei glückliche Platzierungen, und er würde jedenfalls die Hotelrechnung bezahlen können.
Hinter dem Tresen in der Rezeption stand die Frau, die ihn zwei Tage zuvor empfangen hatte. Sie war Tag und Nacht dort und schien sich vor allem für Boulevardzeitungen und den Fernseher an der Wand beim Schlüsselbrett zu interessieren. Jetzt knapste sie sich aber doch einige Sekunden ab, um ihn zu mustern. Er wusste nicht recht, ob in den geschminkten Augen Mitleid oder Verachtung zu lesen war.
Audun Berntsen holt sich ein süßes Brötchen und eine Tasse Kaffee vom Büfett ganz hinten im Raum, dann setzte er sich in einen der drei Korbsessel in der Ecke. Er öffnete den Laptop und loggte sich mit dem Code ins Netz ein, für den er an der Rezeption drei Pfund bezahlt hatte. Die letzten Aktualisierungen der New York Stock Exchange des Vorabends wurden gezeigt, und er überflog sie rasch, ehe er sich zur LSE weiterklickte, der Londoner Börse.
Die Zahlen tanzten auf dem Bildschirm.
Das Brötchen kam ihm zäh vor und ließ sich nicht hinunterschlucken.
Er versuchte, die Kaffeetasse zu heben, aber seine Hände zitterten so heftig, dass er die Tasse wieder hinstellte.
Früher hatte er mit Zahlen und Diagrammen bestens umgehen können. Er handelte rasch und beschränkte sich zumeist auf day trading. An- und Verkauf am selben Tag. Alles ging so, wie er es wollte. Einmal hatte er an einem Tag über vier Millionen verdient.
Aber dann war etwas passiert.
Er hatte den Blick verloren. Die Fähigkeit. Oder was immer das gewesen sein mochte.
Inzwischen hatte er so hohe Schulden, dass er keinen Überblick mehr hatte.
Er weinte jetzt. Weinte und kaute auf einem Teigklumpen herum, der in seinem Mund so sehr anschwoll, dass er fast keine Luft mehr bekam.
Sein Vater hätte ihm über die ärgsten Probleme hinweghelfen können. Die kurzfristig geliehenen Gelder, die schon nach zwei Wochen fällig wurden, hatten durchaus innerhalb der finanziellen Möglichkeiten seiner Eltern
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