Kammerflimmern
»Richtig dicke Freunde, ihr zwei? Zusammen bei der Arbeit, wenn ihr beide frei habt?«
Er streifte den Kittel ab und warf Sara den Funkmelder so plötzlich zu, dass sie Mühe hatte, ihn aufzufangen.
»Kümmere du dich um deine eigenen krepierten Patienten«, sagte er dann. »Ich fahre aufs Meer.«
Die beiden Krankenträger trotteten hinter ihm durch die Tür, offenbar erleichtert, hier wegzukönnen.
»Sind Angehörige im Haus?«, fragte Sara und sah die Narkoseärztin an.
»Soviel ich weiß, sitzt seine Frau bei einer Krankenschwester. Können wir jetzt gehen?«
Sara nickte. »Ola, du bleibst bitte. Ihr anderen könnt gehen. Ich werde gleich mit der Frau reden. Von jetzt an kümmere ich mich um das Praktische. Und habt alle vielen Dank.«
Sara schloss nachdrücklich hinter ihnen die Tür und wandte sich Ola zu: »Hol sofort eine Programmiermaschine«, sagte sie leise. »Wir müssen den ICD herausnehmen und ihn uns genauer ansehen. Ich werde mit der armen Witwe reden, aber ich will das Teil hier keine Sekunde allein lassen. Diesmal wird es jedenfalls kein Austauschspiel geben. Beeil dich.«
Ola nickte, öffnete die Tür und lief los.
14.00 Uhr
Solemskogen. Lillomarka, Oslo
Seit Tagen versuchte Sverre Bakken, Oberingenieur bei Mercury Medical Norway, sich einzureden, er habe nichts falsch gemacht. Anfangs war es einfach gewesen. Er hatte nur getan, worum er gebeten worden war, und dabei war alles mit rechten Dingen zugegangen. Ganz unkompliziert. Nichts, was nicht alle Kollegen auch hätten tun können.
Er entwickelte schon lange keine persönliche Beziehung mehr zu den Patienten, mit denen er zu tun hatte. Dafür war der Prozess der Implantation zu beängstigend. Er saß einfach da, schaute die Programmiermaschine an und war mit den Gedanken weit weg, bis er gebeten wurde, die Spannung im Herzen zu messen. Zweimal hatte er es gewagt, den Blick zum Röntgenbild zu heben, aber ihm war so schlecht geworden, als er gesehen hatte, wie die Elektrode sich langsam ins Herz des Patienten stahl, dass er überhaupt nicht mehr aufpasste. Die dünne Leitung sah aus wie ein Wurm. Ein Herzenswurm. Es war widerlich, und in den vergangenen Jahren hatte er sich immer häufiger dabei ertappt, wie er auf sein eigenes Herz lauschte. Er konnte mitten in der Nacht aus dem Schlaf auffahren, schweißnass und verwirrt und so dicht in Dunkelheit gehüllt, dass er glaubte, bereits tot zu sein.
Da Sverre Bakken die Patienten immer verdrängte, hatte sein kleiner Handgriff einfach und unproblematisch gewirkt.
Harmlos, gewissermaßen.
Er lief so schnell, dass er seinen eigenen Puls spürte.
Am Ende der offenen Fläche bei der Bushaltestelle bog er nach Norden ab, um nicht so vielen Menschen zu begegnen. Es war besser, den unwegsamen Pfad zu gehen, als über den Waldweg zu wandern und sich über rücksichtslose Radfahrer und kreischende Kinder zu ärgern.
Das schöne Wetter hatte den Waldboden noch nicht getrocknet. Schon waren seine Turnschuhe durchnässt. Die Moore waren frühlingsweich, und an mehreren Stellen hatte der Winter den vielen kleinen Bohlen, die der Touristenverband ausgelegt hatte, übel mitgespielt.
Das Ganze hatte so technisch gewirkt. Er war einfach nur Ingenieur. Das versprochene Geld hatte ihn geblendet, ihm befohlen, nicht zu sehen, was er nicht sehen wollte.
Er erreichte einen Bach, über den er sonst einfach hinwegsteigen konnte. Jetzt war er weit über seine Ufer getreten, ein kleiner Fluss. Sverre Bakken verstand es nicht. Die Schneeschmelze war doch lange vorbei.
Wenn er schlafen könnte, wäre das Leben einfacher.
Er war inzwischen von diesen Touren abhängig, denn wenn er ging und ging, bis er sich erschöpft fühlte, kam der Schlaf doch.
Er kam, verließ ihn aber jeden Morgen gegen vier.
Wenn ich nur nicht darauf eingegangen wäre, dachte er und stieg entschlossen in den schneidend kalten Bach. Der Schmerz an den Knöcheln ließ ihn keuchen, und als er das andere Ufer erreicht hatte, lief er los.
Das Schlimmste war, dass er nicht so recht wusste, wozu er Ja gesagt hatte.
Er hatte es nicht wissen wollen. Aber er hatte doch nicht geahnt, dass jemand sterben würde.
Jetzt wusste er es, aber jetzt war es zu spät.
18.00 Uhr
GRUS, Bærum
»Genau dasselbe. Hier ist verdammt noch mal genau dasselbe passiert!«
Ola Farmen hatte den Besucherstuhl neben Saras Sessel gezogen. Auf dem Schreibtisch vor ihnen waren die Instrumente wie in der Kellerwerkstatt miteinander verbunden, nur wurde
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