Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
elementarster Wirtschaftstheorie widerspricht, nach der diejenigen, die Geld verleihen, auch bereit sein müssen, ein gewisses Maß an Risiko auf sich zu nehmen; denn nur die Gefahr eines Zahlungsausfalls zwingt sie, Geld für produktive Investitionen bereitzustellen. Allerdings gelten in der Welt der internationalen Politik die Gesetze der Wirtschaft nur für die armen Länder als verbindlich.) Diese Funktion führte letztlich zum Untergang des IWF.
Denn im Jahr 2002 stellte Argentinien seinen Schuldendienst ein und kam ungeschoren davon.
In den 1990er Jahren war Argentinien der Musterschüler des IWF in Lateinamerika gewesen. Das Land hatte buchstäblich jede öffentliche Einrichtung mit Ausnahme der Zollbehörde
privatisiert. Dann brach im Jahr 2001 die Wirtschaft zusammen. Die unmittelbaren Folgen sind wohlbekannt: Straßenschlachten, die Einberufung von Volksversammlungen, die die Verwaltung einzelner Stadtviertel übernahmen, der Sturz dreier Regierungen innerhalb von einem Monat, Straßenblockaden, besetzte Fabriken … Den Kern des Volkswiderstands bildeten dabei im weitesten Sinne anarchistische oder zumindest antiautoritäre Prinzipien, die so genannte Horizontalität (»horizontalidad«). Innerhalb weniger Monate war die politische Klasse so umfassend diskreditiert, dass Politiker gezwungen waren, Perücken aufzusetzen und sich falsche Bärte anzukleben, wenn sie in Restaurants essen wollten, ohne körperlichen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Als Nestor Kirchner, ein gemäßigter Sozialdemokrat, 2003 an die Macht kam, wusste er, dass er drastische Maßnahmen ergreifen musste, damit die Mehrheit der Bevölkerung sich überhaupt je wieder vorstellen konnte, von jemandem regiert zu werden, und noch dazu von ihm. Also tat er es. Er tat, was eigentlich niemand in seiner Position je tun darf. Er erklärte, dass er den Großteil der Auslandsschulden Argentiniens einfach nicht zurückzahlen würde.
Dabei ging Kirchner genau genommen ziemlich clever vor. Er bediente die IWF-Kredite zunächst weiter, konzentrierte sich stattdessen auf Argentiniens Schuldendienst bei privaten Gläubigern und kündigte eine einseitige Abschreibung von 75 Cent pro geliehenem Dollar an. Das Ergebnis war der größte Zahlungsausfall in der Finanzgeschichte. Citibank und Chase appellierten an den IWF, ihren gewohnten Zwangsvollstrecker, die übliche Strafe zu verhängen, doch zum ersten Mal überhaupt in seiner Geschichte sträubte sich der IWF. In erster Linie war die Wirtschaft Argentiniens damals bereits ein Scherbenhaufen, so dass selbst das ökonomische Pendant einer Atombombe nicht viel mehr angerichtet hätte, als die
»Trümmer tanzen zu lassen«. Zweitens war so ziemlich jedem klar, dass die Voraussetzungen für die Staatspleite Argentiniens durch die katastrophalen Ratschläge des IWF überhaupt erst geschaffen worden waren. Drittens – und das war ausschlaggebend – geschah all dies genau zu dem Zeitpunkt, als der Einfluss der Bewegung für globale Gerechtigkeit am größten war: Der IWF war damals bereits die verhassteste Institution auf dem Planeten, und hätte man nun noch den kümmerlichen Rest der argentinischen Mittelschicht vorsätzlich zerstört, wäre das etwas zu viel des Guten gewesen.
Also kam Argentinien ungestraft davon. Und danach war nichts mehr, wie es war. Bald schon veranlassten Brasilien und Argentinien gemeinsam die Rückzahlung ihrer ausstehenden Schulden gegenüber dem IWF. Nachdem Chavez etwas nachgeholfen hatte, folgte kurz darauf auch der Rest des Kontinents. Im Jahr 2003 beliefen sich die Schulden Lateinamerikas gegenüber dem IWF auf 49 Milliarden Dollar. Inzwischen sind es noch 694 Millionen Dollar. 5 Um dies in die richtige Perspektive zu rücken: Dies entspricht einem Rückgang um 98,6 Prozent. Auf tausend Dollar Schulden, die die lateinamerikanischen Länder noch vor vier Jahren angehäuft hatten, kommen heute lediglich noch vierzehn Dollar. Auch Asien zog nach. Sowohl China als auch Indien haben inzwischen keine ausstehenden Schulden gegenüber dem IWF mehr und weigern sich, neue Kredite aufzunehmen. Korea, Thailand, Indonesien, Malaysia, die Philippinen und nahezu alle übrigen größeren asiatischen Volkswirtschaften boykottieren den IWF mittlerweile ebenfalls. Genauso Russland. Lediglich die Volkswirtschaften in Afrika und vermutlich Teile des Nahen Ostens und des früheren sowjetischen Einflussbereichs (im Prinzip
diejenigen Länder, die kein Öl besitzen) kann der
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