Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Gesellschaftstheorie
Nun handelt es sich bei den oben angeführten Überlegungen kaum um eine ausführliche Analyse der Wertbildung innerhalb der Kunstwelt. Ich habe hier höchstens einen äußerst groben ersten Entwurf skizziert, der jedoch bereits um einiges konkreter ist als alles, was die Vertreter der Theorie der immateriellen Arbeit bisher vorgelegt haben.
Zugegebenermaßen neigt die europäische Philosophie dazu, über den Dingen zu schweben; auf die Ebene der empirischen Realität lässt sie sich nur selten herab. Jean Baudrillard war vermutlich der Erste, der diese Herangehensweise perfektioniert
hat. Er konnte ganze Aufsätze schreiben, in denen sämtliche Akteure und Objekte lediglich als Abstraktionen in Erscheinung treten (»Der Tod fordert das Soziale heraus«). Der Witz und ein Gutteil des Vergnügens besteht nun angeblich darin herauszufinden, welche konkrete Bedeutung dies gegebenenfalls für das eigene Leben haben könnte. (Im Grunde war Baudrillard gegen Ende seines Lebens wenig mehr als ein Entertainer. Die vorliegende Arbeit beansprucht im Gegensatz hierzu größere Ernsthaftigkeit.) Lazzarato wiederum hat die etwas ärgerliche Angewohnheit, ständig zu betonen, dass seine theoretischen Konzepte auf einem umfangreichen Korpus aktueller »empirischer Forschung« beruhen würden. Allerdings werden diese Forschungsarbeiten in seinen Schriften nie zitiert, und es wird auch nie konkret auf sie verwiesen. Negri hingegen wirft gerne alles, also sämtliche konkreten Gesten, Tauschhandlungen und Transformationen, in eine Art riesigen Mixer, den er »reelle Subsumtion« nennt, mit dem Ergebnis, dass, da sowieso alles Arbeit ist und sich alle Formen von Arbeit der Logik des Kapitals unterordnen, kaum je Bedarf besteht, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen genauer zu analysieren. (Ganz zu schweigen davon, einmal zu untersuchen, wie beispielsweise ein Inkassobüro, die Modeindustrie oder eine bestimmte kapitalistische Lieferkette konkret organisiert ist.)
In gewisser Weise ist diese Kritik jedoch zutiefst ungerecht. Sie unterstellt, dass Negri und Lazzarato als Gesellschaftstheoretiker einzustufen seien und es somit bei ihrer Arbeit in erster Linie darum gehe, brauchbare Konzepte zu entwickeln, um den aktuellen Zustand des Kapitalismus oder die Formen des Widerstands, der sich gegen ihn formiert, zu verstehen. Oder zumindest präsupponiert die Kritik, dass ihre Arbeit in erster Linie danach beurteilt werden sollte, inwieweit
ihr dies gelingt. Natürlich haben unzählige junge Wissenschaftler aus Europa und Amerika versucht, diese theoretischen Konzepte für derartige Zwecke zu nutzen, wenn auch mit ausgesprochen durchwachsenen Ergebnissen. Allerdings glaube ich nicht, dass das je das vorrangige Ziel der beiden Theoretiker war. In erster Linie sind Negri und auch Lazzarato Propheten.
Freilich existierte das Prophetentum bereits lange vor der eigentlichen Gesellschaftstheorie; in vielerlei Hinsicht hat es diese sogar vorweggenommen. In der abrahamitischen Tradition, die sich vom Judaismus über das Christentum bis zum Islam erstreckt, sind Propheten nicht einfach Menschen, die von zukünftigen Ereignissen sprechen. Vielmehr offenbaren sie verborgene Wahrheiten über die Welt, die zwar Erkenntnisse über zukünftige Ereignisse enthalten können, aber nicht zwangsläufig müssen. Vor diesem Hintergrund könnte man argumentieren, dass sowohl revolutionäre Theorien als auch die kritische Gesellschaftstheorie ihren Ursprung in der Prophetie haben. Gleichzeitig stellen Prophezeiungen eindeutig eine Form politischen Handelns dar, und nicht nur deshalb, weil es Propheten stets um soziale Gerechtigkeit ging, sondern weil sie gesellschaftliche Bewegungen ins Leben riefen und teilweise sogar neue Gesellschaften hervorbrachten. Bereits Spinoza betonte, dass das hebräische Volk im Grunde durch die Propheten hervorgebracht wurde, die einen Rahmen für dessen Geschichte schufen.
Negri hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er selbst gerne eine ähnliche Rolle in Bezug auf die Menge, die »Multitude«, spielen würde, wie er sie nennt. Es geht ihm weniger darum, Realitäten zu beschreiben, als diese vielmehr hervorzubringen. Ihm zufolge solle ein politischer Diskurs »sich bemühen, im Sinne Spinozas prophetisch zu wirken, also in Verbindung
mit dem immanenten Begehren zu wirken, das die Menge organisiert«. 21 Dasselbe gilt auch für Theorien der immateriellen Arbeit. Sie sind in Wirklichkeit nicht
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