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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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ein Aspekt dessen, was Kunst ausmacht.) Als Folge hiervon steht die Kunstwelt nun vor demselben grundlegenden Dilemma wie jede andere Form von Politik auch: der Unmöglichkeit, ihre eigene Legitimität unter Beweis zu stellen.
    Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine.
    Das bezeichnende Merkmal politischen Lebens ist, dass Verhaltensmuster, die ansonsten als geisteskrank angesehen werden könnten, in diesem Kontext als völlig angebracht gelten. Hätte man alle Menschen auf der Welt davon überzeugt, dass man unter Wasser atmen könne, würde das trotzdem nichts an der Tatsache ändern, dass man stirbt, wenn man es versucht. Würde man hingegen die gesamte Weltbevölkerung davon überzeugen, dass man König von Frankreich sei, dann wäre man in der Tat König von Frankreich. (Es würde vermutlich sogar ausreichen, wenn man lediglich einen nennenswerten Teil der französischen Beamtenschaft und des Militärs überzeugt.)
    Dies ist der Wesenskern der Politik. Die Politik ist die Dimension des gesellschaftlichen Lebens, in der Dinge tatsächlich wahr werden, sofern nur genug Leute daran glauben. Das Problem dabei ist, dass man, um dieses Spiel erfolgreich spielen zu können, den springenden Punkt des Spiels nie offen aussprechen darf: Kein König würde je öffentlich zugeben, dass er nur deshalb König ist, weil die Leute glauben, er sei der König. Politische Macht muss fortwährend neu erschaffen werden, indem man andere überredet, die eigene Macht anzuerkennen. Dazu muss man die Menschen praktisch pausenlos davon überzeugen, dass die eigene Macht auf mehr basiert als ihrer bloßen
Anerkennung dieser Macht. Diese Basis kann fast alles sein – göttliche Gnade, Charakter, Abstammung, das nationale Schicksal. Der Satz »Macht mich zu eurem Anführer, denn wenn ihr das tut, werde ich tatsächlich zu eurem Anführer« ist in sich jedoch noch kein sonderlich schlüssiges Argument.
    In diesem Sinne ähnelt die Politik sehr stark der Zauberei. Diese wird praktisch immer und überall – wie ich im Rahmen meiner Feldforschung in Madagaskar herausfand – als etwas angesehen, das deshalb wirkt, weil Leute glauben, dass es wirkt. Gleichzeitig wirkt Zauberei nur deshalb, weil die Leute gerade nicht glauben, dass sie nur deshalb wirkt, weil Leute glauben, dass sie wirkt. Daher scheint die Zauberei in einem ungewissen Terrain angesiedelt zu sein, irgendwo zwischen poetischem Ausdruck und glattem Betrug, egal ob man das antike Thessalien oder die heutigen Trobriand-Inseln betrachtet. Und natürlich gilt dasselbe normalerweise auch für die Politik.
    Wenn nun aber die Kunstwelt sich selbst als eine Form der Politik betrachtet, erkennt sie damit an, dass ihr zum einen etwas Magisches anhaftet, dass sie zum anderen aber auch eine Form von Hochstapelei darstellt – eine Art Betrug.
    Darin besteht die andauernde Krise. Volkswirtschaftlich ist die Kunstwelt natürlich inzwischen weitgehend zu einem bloßen Anhängsel des Finanzkapitalismus geworden. Damit ist nicht gemeint, dass sie Eigenschaften des Finanzkapitalismus angenommen hätte. (In vielerlei Hinsicht stellt sie, was ihre Formen, Werte oder Praktiken angeht, im Grunde das genaue Gegenteil dar.) Es soll vielmehr heißen, dass sie dem Finanzkapitalismus überallhin folgt. So breiten sich etwa Galerien und Ateliers verstärkt am Rande der Stadtviertel aus, in denen Bankiers leben und arbeiten, was in Weltstädten von New York und London bis Basel und Miami beobachtet werden kann.
    Zeitgenössische Kunst birgt vermutlich einen besonderen Reiz für Bankiers, da sie eine Art Kurzschluss im üblichen Wertschöpfungsprozess ermöglicht. In dieser Sphäre entfallen die üblichen Vermittlungsversuche zwischen der proletarischen Welt der materiellen Produktion und den luftigen Höhen fiktiven Kapitals.
    Sonst ist es die Welt der Arbeiterklasse, in der Menschen mit Schweißausrüstung, Leim, Farbstoffen, Plastikfolien, Motorsägen, Garn, Zement und giftigen industriellen Lösungsmitteln sehr gut umgehen können. In der Oberschicht hingegen oder zumindest in der Welt der oberen Mittelschicht wird sogar wirtschaftliches Handeln zu Politik: Alles läuft im Grunde auf Selbstdarstellung hinaus, und Dinge werden tatsächlich wahr, nur weil jemand das so will. Zwischen diesen beiden Welten liegen zahllose vermittelnde Ebenen. In Fabriken und Werkstätten in China und Südostasien werden Kleider hergestellt, die von Firmen in New York entworfen wurden und die mit Kapital bezahlt

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