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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Graeber
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deskriptiv. Für die eifrigsten Verfechter dieses Konzepts ist immaterielle Arbeit deshalb so relevant, weil sie vermeintlich eine neue Form des Kommunismus verkörpert. Diese beruht auf Wegen der Wertschöpfung durch Formen der gesellschaftlichen Kooperation, die so weit verbreitet sind, dass praktisch jeder als daran beteiligt gelten kann, ähnlich wie dies bei der kollektiven Hervorbringung von Sprache der Fall ist. Die Schaffung dieser Werte verläuft dabei in einer Weise, die eine Berechnung der jeweiligen Einsätze und Erträge unmöglich macht; es besteht somit keine Möglichkeit der Bilanzierung. Der Kapitalismus, der in zunehmendem Maße nur noch dazu dient, die durch derartige kommunistische Praktiken geschaffenen Werte sichtbar zu machen, wird auf diese Weise auf eine rein parasitäre Kraft reduziert, eine Art Lehnsherr, der ihm gänzlich fremden Formen der Kreativität gewissermaßen einen Pachtzins abringt. Wir leben also bereits im Kommunismus, wir müssten es nur endlich erkennen. Darin besteht natürlich die wirkliche Funktion des Propheten: Er soll die Anliegen der Multitude organisieren und dafür sorgen, dass die bereits vorhandenen Formen des Kommunismus sich aus ihren zunehmend künstlichen Fesseln lösen können. Gegenüber dieser epochalen Aufgabe erscheint es natürlich trivial und irrelevant, etwa analysieren zu wollen, wie reale Supermärkte oder Mobilfunkanbieter und deren verschiedene Lieferketten organisiert sind.
    Der überwiegende Teil der Gesellschaftstheorie, wie wir sie heute kennen, geht aber nicht etwa auf performative revolutionäre Gesten zurück, sondern ganz im Gegenteil auf deren
Scheitern. So erwuchs etwa die Soziologie aus den Trümmern der Französischen Revolution; Marx’ Kapital wurde verfasst, um das Scheitern der Revolutionen von 1848 zu erklären, und die zeitgenössische französische Philosophie entwickelte sich zu einem guten Teil aus dem Nachdenken darüber, was im Mai 1968 eigentlich schiefgelaufen war. Ziel der Gesellschaftstheorie ist es, gesellschaftliche Realitäten nachzuvollziehen. Als gesellschaftliche Realität gelten dabei in erster Linie all jene Umstände, die verhindern, dass prophetische Verheißungen schlicht und einfach verwirklicht oder auch (beziehungsweise insbesondere) mithilfe des Staatsapparats durchgesetzt werden können. Da jede Gesellschaftstheorie, die etwas auf sich hält, immer auch ein prophetisches Element beinhaltet, führt dies zwangsläufig zu einer andauernden inneren Spannung, die ihrerseits genauso tief verwurzelt ist wie die Spannung, die, wie ich weiter oben erläutert habe, den Wesenskern der Politik ausmacht. Die Arbeiten von Negri und seinen Kollegen tendieren in diesem Kontext jedoch eindeutig in Richtung der prophetischen Verheißung.

Über die Erfüllung der Zeit
    Nach diesen Überlegungen ist es meines Erachtens angebracht, wieder auf meine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Wozu brauchen wir einen revolutionären Philosophen aus Italien, um mit seiner Hilfe über Kunst nachzudenken? Aus welchem Grund wird ein Prophet hinzugezogen?
    Inzwischen ist die Antwort hierauf schon sehr viel naheliegender. Man ruft einen Propheten hinzu, weil Propheten wissen, wie man auf fesselnde Weise dem Publikum darlegt, welchen Platz es in der Geschichte einnimmt.
    Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das die Rolle, die Negri,
Bifo und ihresgleichen spielen sollen. Sie sind zu Impresarios des historischen Augenblicks geworden. Wann immer Künstler oder Philosophen sich auf deren Arbeiten berufen, scheint es ihnen vorrangig um diesen Aspekt zu gehen. Wenn sie bei öffentlichen Veranstaltungen auf die Bühne geholt werden, wird vor allem eines von ihnen erwartet: Sie sollen erklären, warum das Zeitalter, in dem wir leben, einzigartig ist, warum es die Prozesse, die sich um uns herum herauskristallisieren, noch nie vorher gegeben hat, und warum sie sich ihrer Art nach von allem unterscheiden, was je vorher da war.
    Und genau das taten dann auch alle vier, jeder auf seine beziehungsweise ihre Weise. Sie hatten vielleicht nicht viel über einzelne Kunstwerke oder spezifische Formen der Arbeit zu sagen, doch jeder der Vortragenden trug eine detaillierte Einschätzung vor, wo wir in der Geschichte stehen. Für Lazzarato war der entscheidende Punkt, dass wir von einer Disziplinargesellschaft zu einer Sicherheitsgesellschaft geworden sind. Revel wiederum erachtete den Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeit unter das

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