Kanada
mich?« Er hatte die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. Ich hatte nichts zu meinen zukünftigen Pflichten gesagt. Ich hatte nicht mit Pflichten gerechnet. Ich hatte keine Ahnung, was ich sehen würde, sobald es wieder hell war.
»Ist dir wohl scheißegal?«
»Ja.«
»Fünfzig! Aber ich seh jünger aus.« Er redete immer so abgehackt. »Du denkst, ich bin ein Indianer. Das ist mir klar.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Meh-tih«, sagte er. »Du hast keine Ahnung, was zum Henker das ist, oder?«
»Nein«, sagte ich. Mildred hatte das Wort »Métis« zwar erwähnt, aber ich kannte es nicht und wusste auch nicht, wie man es schreibt.
»Das ist die Abstammungslinie vom Blut der alten Könige.« Charley erhob sein stumpfes Kinn und ließ Rauch aus den Mundwinkeln strömen. »Cuthbert Grant – so weit zurück. Der Stamm der Märtyrer.« Er schnaubte in der kalten Luft. »Indianer sind was ganz anderes. Die haben viele Geisteskrankheiten. Zu viel Alkohol, zu viel Inzucht. Sie lehnen uns ab. Wenn man sie lässt, töten sie jeden Métis.«
Plötzlich stellte er sich auf die Bremse. Ich kriegte meine Hände gerade noch aufs Armaturenbrett. Aber ich rutschte aus dem Sitz auf die Knie, und mein Herz hämmerte. Wir standen auf dem hellen Schotterweg mitten zwischen den Weizenfeldern. »Ich muss mal. Du auch?«, sagte Charley. Er hatte den Motor abgewürgt, bevor ich antworten konnte, und stand im Nu breitbeinig im Scheinwerferlicht vor dem Truck. Und schon war sein Penis draußen, deutlich sichtbar, er pisste mit grimmiger Konzentration einen harten Strahl auf die Erde. Ich musste auch. Ich hatte mich nicht getraut, es Mildred zu sagen, obwohl sie doch Krankenschwester war und bestimmt so etwas kannte. Aber vor Charley konnte ich auch nicht, dachte ich, einfach so auf dem Highway. Vor meinem Vater schon. Ich war ein Junge aus der Stadt. Und so blieb ich einfach in dem tickenden Truck sitzen, während die Scheinwerfer Charley und den größer werdenden feuchten Urinkreis am Boden anleuchteten und Straßenstaub zur Tür hereinwehte und mit ihm der zitronige Geruch der Pisse. »Was ist eigentlich mit dir los?«, rief er von draußen. Bevor er aufhörte, gab er ein kleines Ächzen von sich. »Bist du da unten rausgeflogen? Hast du ein Verbrechen begangen?«
Ihn anzuglotzen und sein Geschlechtsteil zu sehen gefiel mir überhaupt nicht. Ich sagte: »Nein.« Ich wollte nicht sagen: Meine Eltern sitzen in Great Falls im Gefängnis. Meine Mutter wollte nicht, dass ich ins Waisenhaus komme, sie will, dass ich hier in Kanada bin.
Charley spuckte in den Urinkreis, dann zog er die Nase hoch. »Geheimnisse sind gut«, sagte er und machte den Reißverschluss zu. »Hier oben kann man sich gut verstecken.« Moskitos und winzige Stechmücken lösten sich aus dem Weizen und flogen in die Hitze der Scheinwerfer. Ein paar kamen zu mir in den offenen Truck herein. Dann schoss ein plötzlicher, aufzuckender Flügelschlag wie ein Blitz durch das Licht, drehte nach oben ab und war fort. Ein Falke oder eine Eule, von den Insekten angezogen. Mein Herz hämmerte noch lauter. Charley hatte den Vogel nicht gesehen. »Weißt du irgendwas über A.R.?« Er stand immer noch draußen und redete und stierte in die Dunkelheit, über den Lichtkegel hinweg. Er meinte wohl Mildreds Bruder.
»Mildred sagte, er ist ihr Bruder.« Ich nahm an, er würde mich nicht hören.
Er scharrte mit seinen schwarzen Gummistiefeln im Schotter herum. »Du wirst ihn seltsam finden.« Jetzt stand er einfach da. »Wie willst du genannt werden?«
»Dell«, sagte ich.
»Wie viel Jahre hast du drauf, Dell?«
Ich wusste, was das heißen sollte. »Fünfzehn«, sagte ich. »Fast sechzehn.«
Charley kam zur Tür und stieg hoch zum Fahrersitz, sein Tiergeruch kam mit. »Bist du einsam?« Er startete den röhrenden Motor. Die Scheinwerfer wurden erst schwächer, dann wieder heller.
»Ich vermisse meine Eltern«, sagte ich, »und meine Schwester.«
»Und wo ist sie hin? Ins Waisenhaus irgendwo?« Charley warf seine Tür zu und kurbelte das Fenster hoch. Mücken umschwirrten uns.
»Sie ist weggelaufen.«
»Gut gemacht.« Er schwieg, die Hände auf dem Steuerrad. »Du hast von nichts eine Ahnung, oder?«
»Nein«, sagte ich.
»Was willst du denn von mir hören?«
»Warum bin ich ausgerechnet hier hergebracht worden?« Wieder sagte ich nur, was ich dachte, wie bei Mildred.
Derselbe Vogel, der vorhin durch den Lichtkegel geflogen war, kam
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