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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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geworden, die beiden Seiten hatten sich gegenseitig neutralisiert, und dadurch waren meine Eltern mir weder richtig vertraut noch völlig fremd und gleichgültig. Wie sie jene Betonstufen hinuntergingen, auf den Kastenwagen zu, in dem sie ihrer Zukunft entgegenrumpeln würden, hatten sie für mich etwas Rätselhaftes, und diesen Eindruck teile ich (ganz bestimmt) mit anderen unschuldigen Kindern von Verbrechern. Als ich dieses Foto erblickte, war mir klar, dass ich sie nie wiedersehen würde. In so kurzer Zeit waren sie also zu zwei Menschen geworden, die ich komplett verloren hatte. Wie es schien, hatten sie nur noch einander, und auch das eigentlich nicht mehr.
    In alldem lag für mich auch eine Art von Befriedigung, was vielleicht überraschend klingen mag, aber sie diente wohl dazu, mein schmerzloses Leiden am Ende zu vertreiben. In den Wochen zuvor hatte ich mir unablässig Sorgen über das Schicksal meiner Eltern gemacht – schon vom Aufwachen an. Ich hatte abgenommen, war älter und nüchterner geworden. Manchmal träumte ich, sie wären mit dem Auto gekommen, um mich zu retten, gemeinsam mit Berner, hätten mich aber nicht gefunden und wären wieder weggefahren. Mit anderen Worten, meine Kindheit war unter der Wucht ihres furchtbaren Absturzes praktisch begraben. Doch nun wusste ich (mehr oder weniger), was ihnen bevorstand, und konnte mich meinem eigenen Leben widmen, das war gar nicht schlecht. Allerdings war ich heilfroh, dass Berner die Fotos nicht sehen und den Artikel nicht lesen musste. Wo immer sie war, ich hoffte, Mildred hatte ihr nicht auch so einen dicken Umschlag geschickt. Wie sich später herausstellte, hatte sie das tatsächlich nicht getan.

52
    Mein lieber Dell-Boy,
    ich schicke Dir diesen Brief nach GF, obwohl ich nicht glaube, dass Du dort bist, aber ich weiß nicht, wohin sonst. Vielleicht gibt ihn Dir ja jemand. Mutters komische Freundin vielleicht, Mildred Sowieso. Ich hoffe, Du liest ihn nicht in irgendeinem Jugendgefängnis – das wäre schrecklich. Ich frage mich, ob Du unsere jämmerlichen Eltern noch mal gesehen hast und was wohl aus ihnen geworden ist. Und was aus meinen Fischen? Ich liebe Dich wahnsinnig, weißt Du das! Trotz allem. Ich habe immer noch Deine Hälfte von dem Geld, das Du mir gegeben hast. Ich habe mir vorgestellt, wie Du allein zu ihrer Zelle gehst, nachdem ich das Nest verlassen hatte. Verzeih. Verzeih. Verzeih.
    Wo bist Du? Ich wohne mit ein paar Leuten in einem Haus. Ein Mädchen hier ist auch abgehauen, sie ist nett. Dann gibt’s einen hübschen Jungen, der unerlaubt die Marine verlassen hat, weil er keine Lust auf Kämpfen hatte. Und noch zwei andere Männer und eine Frau – die sind nicht immer da, kümmern sich aber gut um uns und erwarten nicht viel Aufmerksamkeit als Gegenleistung. Das Haus steht an einer langen Straße namens California Street (natürlich). Denn ich bin in San Francisco. Hatte ich vergessen zu sagen. Die treulose Ratte namens Rudy Rotfuchs habe ich nicht mehr gesehen. Wir hatten einen Packt geschlossen, dass wir uns an einem Samstag in San Francisco treffen wollten, in einem Park namens Washington Square. Ich habe weder ihn noch seine Mutter gesehen. Wenn Du ihn siehst, sag ihm, er soll sich mal um sich selber kümmern. Ich liebe ihn nicht. Er könnte mir auch mal schreiben.
    Merkwürdig, sich Briefe zu schreiben wie Erwachsene, oder? Ich wünschte, Du würdest herkommen, wenn Du das kannst. Ich würde Dich natürlich immer noch herumschubsen. Aber Du könntest hier Schach spielen. Die Leute im Washington Square Park tun das auch. Du könntest was lernen und der große Meister werden. Ich habe herausgefunden, dass andere Leute (Kinder) auch Probleme mit ihren Eltern haben. Nicht dass die losziehen und eine Bank ausrauben – so schlimm nicht – und dann vielleicht noch Selbstmord begehen. Aber andere Sachen. Hast Du einen Brief von ihnen gekriegt? Ich natürlich nicht. Ich frage mich, was die wohl jetzt über mich denken. Wissen sie überhaupt, dass ich abgehauen bin? Es ist wunderschön hier und noch gar nicht kalt, und es fühlt sich so an, als ob hier ganz schön was läuft. Ich bin gern allein. Ich habe den Leuten von unseren Eltern erzählt, aber das glaubt keiner. Vielleicht glaube ich es irgendwann auch nicht mehr oder erzähle es nicht mehr. Ich wünschte, ich könnte Dich sehen, auch wenn ich dachte, als ich wegging, dass ich Dich nie wiedersehen würde. Jetzt glaube ich, wir werden uns wiedersehen. Ich lebe immer noch auf

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