Kanada
bieten und auch niemanden, der auf mich wartete, nicht mal ein Zuhause, zu dem ich zurückkehren konnte. Ich hatte nur meine täglichen Pflichten und meine Mahlzeiten und mein Zimmer mit ein paar Habseligkeiten. Und trotzdem war ich beim Einschlafen fast immer erleichtert darüber, wie es mir ging. Mildred hatte gesagt, ich solle nicht schlecht von mir denken, denn ich könne nichts dafür, was geschehen sei. Florence hatte mir erklärt, wir bekämen unser Leben leer geschenkt und es sei unsere Aufgabe, das Glücklichsein zu erfinden. Und meine eigene Mutter – die noch nie hier gewesen war und nichts von Kanada wusste, abgesehen von dem Blick über einen Fluss hinweg, die nicht einmal die Leute kannte, in deren Hände sie mich gegeben hatte –, selbst sie war davon überzeugt, dass es mir hier besser ginge als in irgendeinem Jugendgefängnis in Montana. Und sie liebte mich, keine Frage.
Berner hatte geschrieben, unser Leben sei ruiniert, auch wenn noch so viel davon vor uns liege. Dass ich wirklich glücklich war, hätte ich gar nicht erfinden können. Aber ich war hochzufrieden, dass ich mein Wasser nicht mehr in einem Eimer herbeischleppen, mich nicht mehr mit Wasserpumpe, Kochplatte und einem Stück Seife waschen, nicht mehr in dem kalten, zugigen, stinkigen Schuppen schlafen und nicht mehr den Abort mit Charley Quarters teilen musste. Und dass ich ein paar bekannte Gesichter um mich hatte. Ich spürte wohl tatsächlich eine Verbesserung, und so ließ ich den Gedanken zu – an dem mir sehr lag –, dass ich als Mensch in der Lage war, an einen möglichen Fortschritt im Leben zu glauben.
Bei dem einzigen Mal, als es zwischen Arthur Remlinger und mir zu einem richtigen Gespräch gekommen war, hatte er mich – halb im Scherz – gefragt, ob ich meinen Namen ändern wolle. Das hatte ich verneint, wie es wohl jeder getan hätte. Ich wollte daran festhalten, wer ich war und was ich von mir wusste, gerade weil all das so sehr in Frage gestellt wurde. Doch in meiner Kammer unter dem Dachvorsprung beschlich mich das Gefühl, dass Arthur Remlinger in diesem Punkt vielleicht mehr wusste als ich. Nämlich: Wenn der Auftrag jedes Menschen auf der Welt darin bestand, Erfahrungen zu sammeln, konnte es manchmal notwendig sein, ein anderer zu werden, auch wenn ich nicht wusste, was für ein anderer das sein sollte, und stets davon überzeugt gewesen war, dass wir immer dem Menschen treu blieben, als der wir im Leben begonnen hatten – so hatte es uns unsere Mutter beigebracht. Mein Vater hätte natürlich gesagt, dass dieser erste Mensch – als der ich angefangen hatte – jetzt sinnlos geworden war und einem anderen Platz machen musste, der bessere Chancen hatte. Wahrscheinlich dachte er so auch über sich selbst. Nur dass es für ihn jetzt zu spät war.
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Im Zuge meines Einlebens in Fort Royal fand ich auch mehr Zugang zu Arthur Remlingers Sphären, ganz wie Florence vorhergesagt und ich es mir gewünscht hatte, ohne zu begreifen, warum es nicht längst dazu gekommen war. Während meiner Wochen in Partreau war er mir bei jeder Begegnung wie ein anderer Mensch erschienen – was mich natürlich verwirrte und ein noch größeres Gefühl von Einsamkeit heraufbeschwor. Mal war er freundlich und enthusiastisch, als hätte er nur darauf gewartet, mir irgendetwas zu erzählen – was er dann aber nie tat. Mal war er reserviert und unbeholfen, als wollte er möglichst schnell wieder weg. Und manchmal verhielt er sich steif und überlegen in seinen teuren (wie ich fand:) Ostküstenkleidern. Ein so sprunghafter Mensch war mir noch nicht untergekommen. Es machte ihn aber auch faszinierend, ich wünschte mir, dass er mich mochte, denn wirklich seltsame Leute hatte ich noch nicht kennengelernt, bis auf unsere Mutter, und so richtig interessant war mir bislang auch niemand erschienen, bis auf Berner, die allerdings mir selbst sehr ähnlich war.
Einmal, auf einem unserer Ausflüge mit dem Auto – die sich ergaben, seit ich ins Leonard gezogen war und ihm öfter über den Weg lief, und bei denen Remlinger seinen Buick über den holprigen Highway prügelte, während er sich zu diesem oder jenem Thema ausließ, das ihn beschäftigte (Adlai Stevenson, den er verabscheute, den Niedergang unserer natürlichen Rechte durch die gewerkschaftlichen Kräfte, seine eigene scharfe Beobachtungsgabe, die ihm eigentlich, fand er, ein Leben als berühmter Anwalt hätte ermöglichen müssen) –, einmal überwand der Buick bei Tempo 140 eine
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