Kanada
bestand darauf, dass Berner und ich das Buch lasen – sie hatte es noch von der Highschool, und es war deutlich weniger optimistisch und romantisch als der Spielfilm. Sie hatte Anfang August begonnen, bei den Schwestern der göttlichen Vorsehung zu unterrichten, und kam mit neuen Büchern nach Hause und erzählte, was die Nonnen über Senator Kennedy sagten: dass die Menschen in den Südstaaten ihn niemals siegen lassen würden; dass ihn jemand noch vor dem Wahltag erschießen würde. (Mein Vater versicherte uns, das sei nicht wahr, der Süden würde leider, leider missverstanden, aber es sei schon richtig, nun würde der Papst in Rom bei uns ein Wörtchen mitzureden haben, und außerdem sei Kennedys Vater ein Whiskeybaron.) Von der Weltraumnadel wurde auch wieder gesprochen, mein Vater sagte, er wolle sie besichtigen und würde uns mitnehmen. Meine Schwester brachte in dieser Zeit zweimal ihren Freund mit nach Hause, allerdings nie ins Haus hinein. Ich mochte ihn. Er hieß Rudy Patterson, war ein Jahr älter als wir und Mormone (das hatte ich nachgeschlagen; laut Rudy bedeutete es auch Polygamist). Außerdem ging er schon zur Highschool, was ihn für mich interessant machte. Er war rothaarig und knochig und hochgewachsen, mit großen Füßen, und trug einen kleinen fahlen Schatten von Schnurrbart, auf den er stolz war. Einmal gingen er und ich auf die andere Straßenseite und spielten eine Runde Basketball beim Korbbrett, das die Stadt dort installiert hatte. Er erzählte mir, er wolle die Schule bald verlassen und nach Kalifornien gehen und dort entweder einer Band oder den Marines beitreten. Er hatte Berner gefragt, ob sie mitkommen oder ihn möglicherweise etwas später dort treffen wolle, und sie hatte nein gesagt, was Rudy zu der Äußerung brachte, sie sei knallhart – und das war sie auch. Während wir unter der dichten grünen, süß riechenden Haube aus Ulmen und Eschenahornen voll brummender Zikaden spielten, hatte Berner auf den Stufen unserer Veranda gehockt – haargenau wie unsere Mutter, in die Sonne blinzelnd, ihre Knie umarmend, unser lockeres Spiel im Blick. Sie rief: »Erzähl ihm nicht, was ich gesagt habe. Ich will nicht, dass er meine Geheimnisse erfährt.« Mir war nicht klar, zu wem von uns sie sprach, zu Rudy oder mir. Damals kannte ich Berners Geheimnisse nicht mehr, obwohl ich früher geglaubt hatte, ich wisse alles über sie, weil wir Zwillinge waren. Aber mittlerweile hatte sie offenbar neue Geheimnisse, denn sie besprach ihre Privatangelegenheiten nicht mehr mit mir und behandelte mich, als wäre ich viel jünger als sie und als führte sie ihr Leben allmählich weg von mir.
Auch aus erster Hand wusste ich etwas über die schlimmen, die ernsthaft schlimmen Ereignisse. Ende der ersten Augustwoche kam mein Vater eines Abends nach Hause, und obwohl ich ihn nicht sah, wusste ich, dass sich etwas Ungewöhnliches im Hause abspielte. Man wird feinfühlig für so etwas, wenn eine Verandatür heftiger als gewöhnlich zuknallt oder schwere Stiefel die Dielenbretter erzittern lassen oder sich eine Schlafzimmertür mit einem Knarren öffnet und dann ertönt eine Stimme, doch schnell geht die Tür wieder zu und man hört nur noch gedämpfte Laute.
Im Hochsommer war es heiß und trocken und staubig in unserem Haus, was Berners Allergien verstärkte (im Winter war es immer zugig und kalt). Meine Mutter ließ den Dachventilator ständig laufen und setzte sich am frühen Abend vorm Kochen gern in eine kühle Badewanne, wenn das pastellfarbene Licht durch das kleine Rechteck des Badezimmerfensters hereinkam. Sie stellte eine brennende Sandelholzkerze auf den Toilettenkasten und blieb im Wasser, bis es ganz kalt war. Mein Vater war an diesem Tag unterwegs gewesen, angeblich um das Handwerk des Landverkaufs weiter zu erlernen. Doch als er nach Hause kam, ging er direkt ins Bad, wo meine Mutter gerade war, und fing an, nachdrücklich und aufgeregt zu reden. Die Tür ging mitten in seinem Satz zu. Aber ich hörte, wie er zu ihr sagte: »Ich hab da plötzlich Ärger gekriegt mit diesem …« Den Rest hörte ich nicht. Ich war in meinem Zimmer und las in meinem Bienenbuch, während das Radio lief. Ich überlegte, wie ich es anstellen konnte, dass wir auch bestimmt zum Jahrmarkt gingen. Im Lauf unserer vier Jahre in dieser Stadt waren wir noch kein einziges Mal dort gewesen. Meine Mutter sah wenig Anlass dazu, weil sie die Karussells nicht mochte und die Gerüche auch nicht, und Berner war nicht
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