Kanada
seh dich«, sagte er dann. Er und unsere Mutter waren am Vortag freundlich und gesprächig miteinander umgegangen. Jetzt manövrierten sie umeinander herum, was mir vertrauter war. Unser Vater hatte augenscheinlich nicht genug zu tun. Sie hingegen war voller Tatendrang. Es wurde kaum gesprochen. Ich versuchte, Berner für »das Stellungskonzept« und das »aggressive Opfer« zu interessieren, über die ich gelesen hatte und die ich ihr auf meinem Bett demonstrierte, auf meinem zusammenrollbaren Schachbrett. Sie sagte, sie fühle sich nicht wohl, ich könne das nicht verstehen, es gehe ums Leben und nicht um ein Spiel.
Seit unsere Mutter von ihrer Verabredung mit Miss Remlinger zurückgekommen war, lief sie wieder geschäftig durchs Haus. Sie wusch eine Ladung Wäsche in der Waschmaschine und hängte sie an die Leine im hinteren Garten, wobei sie auf eine Holzkiste steigen musste, um an den Klammerbeutel heranzukommen. Sie putzte die Badewanne – die Berner immer schmutzig hinterließ – und fegte die vordere Veranda, in deren Fugen der Wind Steinchen geweht hatte. Sie wusch das Geschirr ab, das vom Vorabend in der Spüle stehen geblieben war. Unser Vater ging in den hinteren Garten, setzte sich auf einen der Gartenstühle, starrte in den Nachmittagshimmel und machte die Augenübungen, die er in der Air Force gelernt hatte. Nach einer Weile kam er wieder herein, holte den Kartentisch aus dem Wandschrank im Flur und stellte ihn ins Wohnzimmer. Dann nahm er ein Puzzle heraus und setzte sich vor die verstreut auf der Tischfläche liegenden Teile. Er mochte Puzzles und fand, sie verlangten eine besondere Intelligenz. Über die Jahre hatte er auch ein paar Malen-nach-Zahlen-Bilder gemalt, die er für kurze Zeit aufgehängt, dann in demselben Wandschrank verstaut und nie mehr angeschaut hatte.
Er zog einen Esszimmerstuhl dazu, falls ihm irgendjemand bei dem Puzzle zur Hand gehen wollte, und fing an, die Teile umzudrehen und zu sortieren und zu betrachten und schon einmal die farblich passenden darunter zusammenzufügen wie kleine Inseln. Er fragte Berner, ob sie daran mitarbeiten wolle, bestimmt würde sie sich dann besser fühlen, aber sie sagte nein. Dieses Puzzle bildete ein Ölgemälde der Niagarafälle von Frederic E. Church. Es zeigte das machtvoll rauschende grüne Wasser, wie es über flache rote Felsen schmolz und im Fall in den weiß-luftigen Abgrund selbst weiß und gelb wurde. Wir hatten es schon oft zusammengesetzt, und natürlich erinnerte es mich an das Foto meiner Mutter, das sie mit ihren Eltern unterhalb der Fälle bei einem Boot zeigte. Es war das Lieblingspuzzle meines Vaters, er mochte das Dramatische. Auf der Schachtel stand, dass das Gemälde zur Hudson-River-Schule des Malens gehöre, was ich unsinnig fand, denn anderswo auf der Schachtel stand, dass es der Niagara River sei, nicht der Hudson. Ich habe mich immer gefragt, ob es nicht eine Formel gibt, wie man die Stücke zusammensetzt, so dass man das ganze Puzzle binnen einer Stunde legen könnte oder noch schneller. Jedes Mal von neuem das Bild zusammenzukriegen und nach den richtigen Teilen zu suchen schien mir der schwierigste Weg zu sein. Außerdem begriff ich nicht, warum man es eigentlich mehr als einmal machen sollte. Es war ja nicht wie Schach, was zwar bei jeder Partie dasselbe Spiel war, aber mit einer endlosen Anzahl verschiedener Möglichkeiten.
Eine Weile blieb ich neben unserem Vater stehen und zeigte auf lilablaue Himmelsteile und andere, die eindeutig zum Fluss gehörten. Berner fragte unsere Mutter, ob sie für einen Spaziergang aus dem Haus gehen dürfe, der Ventilator sei unangenehm für ihre Nebenhöhlen, aber beide Eltern fanden, sie solle dableiben.
Unsere Mutter verbrachte von neuem ziemlich viel Zeit am Telefon in der Diele – und mein Vater tat so, als merkte er es nicht. Schließlich nahm sie das Telefon an der langen Schnur mit in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür. Ich konnte ihre summende Stimme unter dem Flappen des Ventilators vernehmen. »Nein, unter normalen Umständen würden wir das auch nicht, aber …«, hörte ich sie sagen, » … es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das für immer sein muss …«, das war noch so etwas. Diese Gesprächsfetzen, deren Adressaten ich nicht kannte, ließen mir unseren Vater, im Wohnzimmer die Niagarafälle zusammenpuzzelnd, fremd erscheinen – als wäre unsere Mutter auch seine Mutter und müsste sich auch um ihn kümmern.
Nach einer Weile ging ich in mein Zimmer und
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