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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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zu wollen, dass man vielleicht wichtige Anteile dessen, was andere tun und sagen, verpasst, aber dass man sich trotzdem auf sich selbst verlassen muss, um sie zu verstehen. Allerdings dachte ich, er wolle mir eigentlich ganz was anderes sagen, ohne es direkt auszusprechen, nämlich dass vielleicht etwas Schlimmes auf mich zukam und dass ich selbst einen Weg finden musste, es durchzustehen. Und dass ich auch für Berner verantwortlich sein sollte. Deswegen sagte er es mir und nicht ihr, was aber nur bewies, dass er Berner fast nicht kannte, so wie er mich nicht kannte.
    »Macht ihr euch Gedanken darüber, deine Schwester und du, was ihr mit eurem Leben anfangen wollt?« Seine Augen sahen trocken und müde aus. Seine Fingerspitzen waren von der Schuhcreme verschmiert. Er wischte sie Finger für Finger an seinem Flanelllumpen ab. Jetzt schien er aus der Ferne zu mir zu sprechen.
    »Jawohl, Sir«, antwortete ich.
    »Und, was denkt ihr?«, fragte er. »Über die Zukunft.«
    »Ich möchte gern Anwalt werden«, sagte ich, aus dem einzigen Grund, dass ein Junge im Schachclub erzählt hatte, sein Vater sei einer.
    »Ich wünschte, du könntest dich beeilen«, sagte er und musterte seine Fingernägel nach der Reinigungsaktion. Es waren immer noch schwarze Spuren unter den Rändern. »Du musst dich darum bemühen, allem einen Sinn zu geben.« Er lächelte schwach. »Prioritäten setzen. Manche Dinge sind wichtiger als andere. Es kann ganz anders kommen, als du erwartest.« Er wandte seinen Blick zum vorderen Fenster, sah auf die Straße hinaus, die South-West First. Die Lutheraner versammelten sich unter den Bäumen im Park bei ihrer Kirche. Die Leute kamen von der Hochzeit nach draußen. Sie wedelten sich mit ihren Hüten und mit Papierfächern Luft zu und lachten. Meine Mutter stieg gerade aus Mildred Remlingers Ford aus, der am Bordstein stand. In ihrem grün-rosa karierten Wollkostüm wirkte sie klein und unglücklich. Sie sagte nichts mehr in das Auto hinein, schloss nur die Tür und setzte sich in Bewegung, auf unsere vordere Veranda zu. Mildreds Auto fuhr weg. »Jetzt gibt’s Ärger«, sagte mein Vater. Ich rechnete damit, dass er sagen würde, ich dürfe ihr nichts von unserem Gespräch erzählen. Das kam oft, so als hätten wir bedeutsame Geheimnisse – die hatten wir gar nicht, soweit ich wusste. Aber er sagte es nicht. Was mir klarmachte, dass sie dieses Gespräch gemeinsam verabredet hatten, auch wenn ich gar nicht begriff, worum es wirklich ging: nämlich um ihre mögliche Verhaftung und was Berner und ich danach tun würden.
    Mein Vater warf mir sein Verschwörerlächeln zu. Er erhob sich vom Tisch. »Bestimmt hat sie alles schon bald im Griff«, sagte er. »Wart’s ab. Sie ist ein schlauer Fuchs. Viel, viel schlauer als ich.« Er ging zur Tür, um sie meiner Mutter aufzumachen. Damit endete unser Gespräch. Es war das letzte dieser Art.

22
    Manchmal hört man Geschichten von Menschen, die schlimme Verbrechen begangen haben. Plötzlich beschließen sie, alles zu gestehen, sich der Polizei zu stellen, sich alles von der Seele zu reden – Last, Leid, Scham, Selbsthass. Sie machen reinen Tisch, bevor sie ins Gefängnis gehen. Als wäre ihr Schuldgefühl für sie das Schlimmste auf der Welt.
    Heute kann ich sagen, dass Schuld weniger damit zu tun hat, als man denken würde. Unerträglich ist vielmehr, dass plötzlich alles so durcheinandergekommen ist: Der Rückweg in den Zustand davor ist verstellt mit lauter Hindernismüll; wie sich ein Mensch einmal gefühlt hat, unterscheidet sich plötzlich völlig von dem, wie er sich nun fühlt. Und dann die Zeit: Wie die Stunden des Tages und der Nacht so seltsam voranschreiten – zuerst schnell, und dann scheinen sie gar nicht mehr zu vergehen. Bis die Zukunft ebenso verworren und undurchdringlich wird wie die Vergangenheit. Der Mensch gerät in einen Lähmungszustand – er hängt fest in einer langen, unablässigen, unerträglichen Gegenwart.
    Wer würde das nicht gern beenden – wenn er könnte? Die Gegenwart dazu bringen, Platz zu machen für eine Zukunft, und es ist beinahe egal, welche. Wer würde nicht alles gestehen, nur um von der schrecklichen Gegenwart losgelassen zu werden? Ich auf jeden Fall. Nur ein Heiliger würde widerstehen.
    Wieder fuhr an jenem Samstag ein schwarz-weißer Streifenwagen mehrmals an unserem Haus vorbei. Der uniformierte Fahrer schien es ganz genau zu mustern. Unser Vater ging jedes Mal zum vorderen Fenster und sah hinaus. »Okay. Ich

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