Kanada
Gedanken lesen noch jedes kleinste bisschen von ihr wissen. Sie liebt euch beide sehr. Genau wie ich.« Er war aufgebracht. Er fügte hinzu: »Ich hab’s zurzeit ziemlich schwer, ein wildes Tier, das sein Revier verteidigen muss, hat’s auch nicht leichter. Ich krieg nicht immer alles perfekt hin, das ist mir auch klar.«
»Wo wart ihr, als ihr weg wart?« Berner sah ihn direkt an, ihr sommersprossiges Gesicht war blass, als würde ihr gleich schlecht vom Autofahren. Unser Vater blickte wieder in den Rückspiegel. Ich drehte mich um. Da war ein schwarzer Ford mit zwei Männern in Anzügen auf den Vordersitzen. Sie redeten miteinander. Einer lachte. Ich wusste nicht mehr, ob es dasselbe Auto war, das ich am Rummelplatz gesehen hatte, aber ich glaubte, ja.
»Kann sein, dass eure Mutter eine Reise mit euch Kindern machen muss«, sagte er. »Aber kein Grund zur Sorge.«
»Hast du gehört, was ich dich gefragt habe?«, sagte Berner.
»Ja, habe ich.« Unser Vater schaltete seinen Blinker ein, da wir gleich die Brücke verlassen und Richtung Osten fahren würden, auf den Stützpunkt zu. Doch dann gab er plötzlich Gas, fuhr geradeaus von der Brücke herunter, einen Block weiter und dann rechts auf die Seventh Street Richtung Stadtmitte und noch mal rechts auf eine hübsche, baumbeschattete Straße mit weißen Holzhäusern – schöner als unsere –, wo es üppigere Ulmen und Eichen gab und gepflegtere Rasenflächen und eine Schule aus rotem Backstein. Ich wusste nicht, wer hier wohnte. Vermutlich die Jungs aus dem Schachclub, deren Väter Anwälte waren. In diesem Viertel war ich noch nie gewesen, obwohl Great Falls gar nicht so groß war, ein Städtchen eher.
Ich drehte mich um. Der schwarze Ford war auch abgebogen und blieb hinter uns, die beiden Männer redeten weiter. Zum Flugzeugegucken am Stützpunkt fuhren wir also auch nicht.
»Was hast du mit deiner Pistole gemacht?«, fragte ich.
Die Augen meines Vaters schossen zu mir, dann wieder zu dem Ford. »Was weißt du denn davon?«
»Ich habe in deiner Schublade nachgeschaut.«
Er seufzte entnervt. »Das darfst du nicht tun. Das sind meine Privatangelegenheiten.« Er war nicht böse. Er war uns nie böse. Wir hatten ja auch nichts gemacht.
»Warum privat? Was hat das damit zu tun?«, fragte Berner.
»Wisst ihr Kinder eigentlich, was es heißt, sich sinnvoll und vernünftig zu verhalten?« Seine Augen suchten immer wieder den Rückspiegel. Wir waren die ganze Seventh Street hinunter bis zum Fluss zurückgefahren. Immer noch standen lauter Schaumkronen auf der weiten Wasseroberfläche. Am anderen Ufer waren der Jahrmarkt, das Riesenrad und die Achterbahn wieder unter den dahingleitenden Wolken zu sehen. Nichts war abgebaut worden. Wir hätten dort sein können.
Plötzlich drehte sich mein Vater auf dem Fahrersitz um, obwohl er fuhr, und stierte mich an. Ich verdeckte den Geldbatzen in meinem Schoß mit den Händen. Der Erdboden würde sich auftun, wenn er ihn sähe, glaubte ich jedenfalls. Seine fahlen Augen durchbohrten mich. Seine Züge – ich konnte nur die rechte Seite sehen –, seine Wange, sein Kinn, sein Mund, eine Augenbraue, alles schien in Bewegung zu sein. Es machte mir Angst. Er achtete nicht darauf, wo er hinfuhr. Ich hatte vergessen, was er als Letztes gesagt hatte.
»Ich habe dich etwas gefragt. Weißt du, was es heißt, sich sinnvoll und vernünftig zu verhalten?«
Über dieses Thema hatten wir zuvor gesprochen, als er seine Stiefel putzte. Beim Schachspiel musste man sich sinnvoll und vernünftig verhalten. Man musste nur abwarten, bis man den Sinn erkannte. Aber das würde ihn nicht interessieren. »Ja«, sagte ich.
Er spähte wieder auf die Straße. Wir fuhren gerade auf der Rückseite des Gefängnisses von Cascade County vorbei. »Was hast du gesagt?« Ich hatte nicht sehr laut gesprochen.
»Jawohl, Sir«, sagte ich lauter. »Ich weiß es.«
Er sah noch einmal nach hinten, als hätte er mich immer noch nicht gehört. Sein Atem roch schal. Er blinzelte mich an. Er wirkte verändert.
»Warum fragst du nicht mich?«, sagte Berner mit herausfordernd erhobenem Kinn. »Ich weiß genau darüber Bescheid.«
»Gut!« Er starrte sie an, als wollte sie ihm dazwischenfunken. »Für alle Fälle sag ich es euch aber trotzdem noch mal.« Er wischte sich mit der Hand quer über den Mund und wieder durch die Haare. »Es heißt, die Dinge zu akzeptieren. Wenn man versteht, akzeptiert man. Und wenn man akzeptiert, versteht man.« Er feuerte einen
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