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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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und in jeder Hinsicht über die Stränge schlugen. Aber das war mir egal. Ich war glücklich. Ich war glücklich, dass Berner glücklich war. Es war schon immer schwierig gewesen, es ihr recht zu machen. Und einen kurzen Augenblick lang schien es, als würde ich unseren Eltern beim Tanzen zusehen und alles wäre wieder so, wie es sein sollte.
    Nachdem sie zu einer weiteren Glenn-Miller-Nummer getanzt hatten, lief Rudy rot an. Er schwitzte in der Uniformjacke meines Vaters. Abrupt hörte er auf, riss sich die Jacke vom Leib und warf sie auf einen Stuhl, dann lief er wieder durch den Raum und sagte, er würde nicht lange bleiben. Berner stand mitten im Zimmer und sah ihn an. Er sagte, er hätte einen Plan, wie er noch in dieser Nacht an etwas Geld kommen könne, aber es wäre am besten, wenn er uns nicht erzählte, wie (durch Diebstahl, nahm ich an). Er sagte, er könne schon im Deer-Lodge-Gefängnis landen, wenn er bei einem Verbrechen erwischt würde, weil er bald siebzehn sei. Man hätte ihn hier im Blick, während es in Kalifornien so viele Leute gäbe, dass er nicht so auffallen würde wie in Great Falls. Dieses »Höllenloch«, wie er es nannte, könne er nicht ausstehen.
    Er fragte Berner, ob es im Haus etwas zu essen gab. Er hatte nur die Erdnüsse im Magen, »beim Italiener eingesteckt«, und Bier und Whiskey, mit Geld aus dem Portemonnaie seines Vaters bei einem Inder gekauft. Berner sagte, im Eisfach lägen gefrorene Steaks – die unser Vater vom Stützpunkt mitgebracht hatte. Sie könnte ihm eins braten. Das fand er eine prima Idee.
    Und so setzten Rudy und ich uns eine Zeitlang ins Esszimmer unter die Deckenlampe, hinter zugezogenen Vorhängen, damit uns keiner von der Straße aus sehen konnte. Hier hatte vor zwei Tagen unsere Familie gesessen. Rudy rauchte und trank abwechselnd Bier und Whiskey. Berner legte ein gefrorenes Steak direkt in die Pfanne, um es auf dem Westinghouse zu braten (so nannte unser Vater den Herd). Ich hatte sie noch nie etwas kochen sehen und war überzeugt, dass sie gar nicht wusste, wie das ging. Ich wusste es jedenfalls nicht. Rudy hatte ein Buch meiner Mutter vom Wohnzimmerregal genommen – ihre Rimbaud-Gedichte – und las ein, zwei Zeilen daraus vor. »Hin in die gepfefferten und erschlafften Länder! – im Dienst der ungeheuerlichsten industriellen oder sinnlichen Ausbeutungen …« Das habe ich nicht vergessen. Rudy wirkte immer noch freundlich und geheimnisvoll auf mich. Seine struppigen roten Haare und die geäderten Arme verstärkten den Eindruck von jemand Ungewöhnlichem. Ich hielt ihn nicht für klüger als mich. Er spielte nicht Schach – soweit ich wusste. Er wusste nichts von anderen Orten auf der Erde – ich aber schon. Er hatte nicht vor, aufs College zu gehen, sondern wollte ausreißen. Ich war mir ziemlich sicher, dass er nie Time oder Life oder National Geographic gelesen hatte. Wobei ich ihm deshalb keineswegs eine eigene Intelligenz absprechen wollte – zu der gehörte, ein Messer am Gürtel und Stahlkappenstiefel zu tragen, zu trinken und zu rauchen, Pläne zu schmieden, um an sein eigenes Geld zu kommen, über Mormonen Bescheid zu wissen und zu tun, was immer er und Berner im Auto seines Vaters beim Flughafen taten. Da kam schon einiges zusammen.
    Bei Tisch sagte Rudy, er freue sich schon auf einen Winter in einem anderen Klima – nämlich Kalifornien, wo seine echte Mutter wohne. Sein Vater habe ihm erzählt, er – Rudy – hätte eigentlich gar nicht zur Welt kommen sollen, oder zumindest als Kind anderer Leute, die viel Geduld mitbrächten. Er ließ seine Zigarette in die Bierflasche fallen und steckte sich eine neue an (es gab keine Aschenbecher in unserem Haus) und verkündete, er werde wohl im Gefängnis landen. Er schien vergessen zu haben, dass unsere Eltern zur selben Zeit im Gefängnis saßen und dass wir in diesem Punkt vielleicht etwas empfindlich waren. Er sagte, seit er in Great Falls lebe, habe er sich mit niemandem anfreunden können, und mit einer Stadt, wo man keine Freunde finde, sei etwas nicht in Ordnung. Das entsprach auch Berners und meiner Erfahrung, bei uns hatte es aber wohl eher mit der Angst meiner Mutter vor Anpassung zu tun. Er starrte mich durchdringend an, quer über den Tisch, dann fiel ihm plötzlich doch ein, in welcher schrecklichen Situation Berner und ich gerade waren, und er sagte, seines Wissens hätten wir unser schweres Schicksal nicht verdient. Aber das hätte ich sowieso nie gedacht. Ich empfand es schon

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