Kanada
war sie ausgekühlt. Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Wärm mich auf«, sagte sie. »Ich kann nicht schlafen.« Sie schniefte und seufzte. »Ich habe diesen Whiskey getrunken. Das hält einen wach.« Sie schmiegte sich an mich. Ich roch Seife und Menthol und Rauch in ihrem Haar. Sie drückte mir ihr hubbeliges Gesicht in den Nacken, ihre Wangen waren feucht und kühl, und ihre Nase war verstopft.
»Ich hab schon geschlafen«, log ich.
»Dann schlaf weiter«, sagte sie. »Ich werde dich nicht stören.« Ein Zug pfiff durch die Nacht. Meine Arme waren verschränkt. Sie packte meine Hand.
»Ich werde allein ausreißen«, flüsterte sie mir ins Ohr. Sie räusperte sich und schluckte und zog die Nase hoch. »Ich bin verrückt«, sagte sie. »Mir ist scheißegal, was ich mache.«
Eine Zeitlang sagte sie nichts. Ich lag neben ihr und atmete. Dann küsste sie mich plötzlich hart auf den Hals, unter meinem Ohr, und schob sich noch näher an mich heran. Es machte mir nichts aus, dass sie mich küsste. Ich fühlte mich sicher dadurch. Sie ließ meine Hand los und bewegte ihre, die rau und knochig war. »Heute Nacht wollte ich es mit Rudy tun«, sagte sie. »Aber jetzt tu ich’s mit dir.«
»Ist gut«, sagte ich. Ich wollte es. Es war mir egal.
»Es dauert nicht besonders lang. Wir haben es schon gemacht, in seinem Auto. Und du solltest sowieso wissen, wie das geht.«
»Davon weiß ich überhaupt nichts«, sagte ich.
»Das ist perfekt. Dann wird es dir nichts bedeuten. Du wirst es wieder vergessen.«
»Ist gut«, sagte ich.
»Ich versprech’s dir«, flüsterte sie. »Es ist eigentlich belanglos.«
Und mehr braucht nicht erzählt zu werden. Ich möchte es nicht wiederholen. Es war unbedeutend, was wir taten, außer für uns, und das auch nur damals. Später in der Nacht erwachte Berner und richtete sich auf, sah mich an und sagte – weil ich auch wach war: »Du bist nicht Rudy.«
»Nein«, sagte ich. »Ich bin Dell.«
»Na dann«, sagte sie. »Ich wollte mich nur verabschieden.«
»Auf Wiedersehen«, sagte ich. »Wo gehst du hin?«
Sie lächelte mich an – meine Schwester –, und dann schlief sie wieder ein, und ich legte meine Arme um sie, falls sie fror oder sich fürchtete.
35
Es war seltsam, in dem Haus aufzuwachen, ohne unsere Eltern darin. Vor gar nicht langer Zeit waren wir schon einmal ohne sie aufgewacht, aber diesmal, am Montag, war alles anders. Sie waren im Gefängnis – so nahmen wir an –, und wir hatten keine Ahnung, was aus uns beiden werden sollte.
Ich schlief bis acht Uhr durch – bis mein Zimmer in der Sonne dampfte und ich verschwitzt aufwachte. Der Dielenventilator lief wieder. Berner lag nicht in meinem Bett. Die Laken neben mir waren kalt, so als sei sie seit einiger Zeit schon nicht mehr da. Durch die Wände hörte ich den summenden Verkehr von der Central. Ein Flugzeug startete oben auf dem Hügel, am Flugplatz. Mir schoss durch den Kopf, dass Berner vielleicht weg war und dass ich es allein durch den Tag schaffen musste.
Aber als ich mich angezogen hatte, fand ich sie in der Küche. Sie hatte das Steak von gestern Abend noch einmal gebraten und einen Teil davon gegessen, auf einem Teller lag ein rechteckiges Stück für mich, das ich mit einem Glas kalter Milch aß. Im Haus roch es immer noch nach Bier und Zigaretten. Ich überlegte, dass wir den Müll nach draußen bringen sollten, bevor es noch heißer wurde.
Berner trug ihre Bermudashorts, die sie sehr selten anzog und die ihre haarlosen sommersprossigen Beine zeigten, dazu Tennisschuhe und eine Matrosenbluse. Sie hatte geduscht und die Haare mit einem roten Gummiband nach hinten gerafft. Es gab kein Gespräch über das, was in der Nacht passiert war. Sie wirkte nicht unglücklich deshalb, und ich war es auch nicht. Wir waren nicht dieselben wie vorher, und in meinen Augen war das gut.
»Wir müssen sie besuchen«, sagte Berner und wusch ihren Teller und meinen in der Spüle ab, wobei sie durchs Fenster nach draußen starrte – auf das Badminton-Netz, das Nachbarhaus, einen Pfosten der Wäscheleine. »Wenn wir das nicht machen, werden sie irgendwo hingebracht, und wir sehen sie nie wieder.« Mit ihren nassen Fingern nahm sie eine Zeitung vom Küchentresen und ließ sie auf den Tisch fallen, an dem ich saß. »Jemand hat uns ein schönes Geschenk hinter die Fliegengittertür gesteckt.«
Es war die heutige Tribune , aufgeklappt, mit zwei Bildern von unseren Eltern – Einzelaufnahmen, nebeneinander
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