Kanada
Mann«, sagte Berner. »Du bist sechzehn.«
»Nächste Woche nicht mehr. Nicht mehr lange, und du erfährst alles darüber.« Rudy verging sein breites Lächeln. Er stand da, die Hand auf dem gläsernen Türknauf, als wollte er sich entschuldigen und wir säßen über ihn zu Gericht. Taten wir auch. »Du musst dich nur ein bisschen gedulden.« Er zog die Tür auf.
Berner sagte: »Und wie weit bin ich bis jetzt damit gekommen?« Sie drehte sich um und marschierte in die Küche.
»Lass sonst niemanden herein, Dell«, sagte Rudy und ignorierte sie. »Die kommen euch holen, wenn sie können.«
»Das hat uns meine Mutter schon gesagt«, antwortete ich.
Rudy nahm die Zigarette aus dem Mund, räusperte sich, blies Rauch ins Zimmer und warf einen schnellen, fast verblüfften Blick auf alles, was er dann doch beschlossen hatte hier zu lassen. Mit einem Schritt war er draußen und schlug die Tür hinter sich zu. Berner hatte schon angefangen, das Geschirr abzuwaschen. Ich rechnete damit, Rudy Patterson nie wiederzusehen, und war froh darüber. Er hatte uns kein bisschen geholfen. Und obwohl ich es ja wirklich nicht wissen konnte, kam es am Ende genau so.
34
In jener Nacht, der Sonntagnacht, räumten Berner und ich das Haus auf, wuschen das Geschirr ab, schafften die Zigarettenstummel und Erdnussschalen und Bierflaschen weg und ebenso den Dreck, den die Polizei hinterlassen hatte, kurz, alles, was das Haus schmuddlig wirken ließ. Wir packten das Puzzle und den Kartentisch weg, stellten meinen Globus wieder auf die Kommode, hängten die Air-Force-Jacke meines Vaters in den Kleiderschrank zurück, der Koffer meiner Mutter und Berners Tasche kamen wieder an ihren Platz und der Kissenbezug in mein Zimmer.
Wir redeten nicht viel. Berner nahm an, sie würde Rudy nie wiedersehen, Leute wie er verschwänden glücklicherweise aus unserem Leben, jedenfalls laut ihrer Erfahrung (die gleich null war). Er liebte sie nicht, und übrigens, sie ihn auch nicht. Ich sagte, ich fände ihn schon nett, aber sie wäre bestimmt besser dran, wenn sie nicht ausreißen, sondern hierbleiben würde, bis unsere Eltern wiederkämen. Ich versuchte, mich als Mann des Hauses zu behaupten und um die Dinge zu kümmern, die sonst keiner in den Griff bekam.
Da die Sonne nicht mehr auf dem Dach stand, war es kalt in meinem Zimmer geworden. Ich schaltete den Dachventilator aus, lag in einem Mondlichtflecken und konzentrierte mich auf meine Eltern. Ich wollte, dass mein Herz zur Ruhe kam. Es hatte den ganzen Tag wie wild gehämmert, als wäre ich pausenlos um ein Stadion gelaufen.
Unsere Eltern veränderten sich von neuem in meinen Gedanken, sie rutschten näher zusammen, nicht so, als hätten sie ihre Liebe wiedergefunden, sondern als wären sie ein und dieselbe Person und hätten die Eigenschaften, die sie unterschieden, abgeworfen. Das stimmte natürlich nicht; sie waren die Menschen, die sie waren. Und so schockierend und verwirrend der Tag für mich gewesen war, für sie war alles noch viel schlimmer. Doch dieses Gefühl – dass sie sich in meinem Kopf weniger voneinander unterschieden – war in gewisser Weise eine Erleichterung. Vielleicht hatte ich wirklich ein bisschen den Verstand verloren an jenem Tag. Wenn man den Verstand verliert, ist es wahrscheinlich nie so, wie man sich das vorstellt.
Was wir am nächsten Morgen oder am ganzen nächsten Tag tun sollten, war mir nicht recht klar. Falls niemand kam, würden wir einfach im Haus bleiben. Falls Mildred Remlinger kam, würde sie uns sagen, was von uns erwartet wurde. Mehrmals klingelte das Telefon, als ich im Bett lag. Berner ging einmal an den Apparat, um zu sehen, ob es Rudy war. Aber ich merkte schon, dass sich niemand meldete, als sie Hallo sagte. Danach ging sie nicht mehr dran.
Irgendwann schlief ich fast ein – obwohl mein Herz immer noch merkwürdig raste. Dann spürte ich, dass Berner hereingekommen war und sich zu mir ins Bett gelegt hatte – das zweite Mal in einer Woche. Mit unserem Umzug nach Great Falls hatten unsere Eltern sie in ihr eigenes Zimmer verfrachtet, aber ich hatte sie vermisst und freute mich, dass sie wieder da war. Ich wäre nie zu ihr ins Bett gegangen. Sie hätte einen Wutanfall gekriegt oder sich über mich lustig gemacht. Aber ich war heilfroh, nicht allein zu sein.
Sie hatte geweint und roch nach ihren Tränen und nach Zigaretten. Sie hatte nichts an, das schockierte mich. Ihre Haut war kalt, und sie presste sich eng an mich in meinem Pyjama. Vom Weinen
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