Kanada
–, die im Gefängnis gemacht worden waren. Beide hielten Schilder mit der Aufschrift »Gefängnis von Cascade County« in der Hand, darunter eine Nummer. Die schwarzen Haare unseres Vaters waren unordentlich, aber er lächelte. Unsere Mutter hatte einen angespannten Gesichtsausdruck mit hängenden Mundwinkeln, den ich nicht von ihr kannte. Sie trug ihre Brille, ihre Augen standen eng nebeneinander, waren weit aufgerissen und schienen auf eine schreckliche Szene zu starren. Die Schlagzeile lautete: »Die Bankräuber von N.D.« Wer immer uns die Zeitung hingelegt hatte, hatte noch einen handgeschriebenen Zettel oben drangemacht: »Das wollt ihr doch gerne sehen. Bestimmt seid ihr sehr stolz.«
Ich war verblüfft, dass uns jemand das so hinlegte. Meine Hände zitterten, als ich es sah. Am letzten Freitagmorgen hatten unsere Eltern die Agricultural National Bank in Creekmore, North Dakota, überfallen, stand in dem Artikel. Von einer Waffe war die Rede. 2500 Dollar seien erbeutet worden. Unsere Eltern seien nach Great Falls geflohen und in einem gemieteten Haus auf der West Side verhaftet worden. Unser Vater, dessen Name in Anführungszeichen stand (»Bev«, genau wie der unserer Mutter, »Neeva«), wurde als »gebürtig aus Alabama« beschrieben, aus der Air Force entlassen und seit einiger Zeit schon unter Beobachtung der Polizei von Great Falls, unter dem Verdacht, zusammen mit einigen Indianern aus dem Rocky-Boy-Reservat noch weitere Verbrechen begangen zu haben. Unsere Mutter stamme aus »Washington State«, hieß es, und unterrichte an einer Schule in Fort Shaw. Sie habe keine Vorstrafen, aber ihre Staatsbürgerschaft werde noch überprüft. Kommende Woche sollten sie nach North Dakota ausgeliefert werden. Kinder wurden nicht erwähnt.
Berner ließ das Wasser aus der Spüle ablaufen. »Lügner sind sie, sonst nichts. Wie alle anderen«, sagte sie.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals gelogen hätten. Dann fiel mir die Waffe ein. Es war eine furchtbare Überraschung, in der Zeitung davon zu lesen – fast so schlimm, wie davon zu wissen. »Ausgeliefert«, das Wort hatte ich schon mal im Fernsehen gehört. Es bedeutete, dass sie nicht zurückkommen würden. Das Geldpäckchen war vermutlich ihre Beute, die wir besser nicht behielten.
»Wenn wir ins Gefängnis fahren, werden wir geschnappt«, sagte Berner trocken. Sie trat ans vordere Fenster, das auf die Straße und den Park hinausging. Das Morgenlicht lag hart und hell auf dem Dach eines Autos, das vor der Lutheranerkirche geparkt stand. Hoch über den Bäumen zogen Schäfchenwolken über einen vollkommen blauen Himmel. »Wir müssen natürlich trotzdem hin. Auch wenn sie Lügner sind.«
»Ja«, sagte ich. »Das will ich.« Ich wollte nicht an das Jugendamt überstellt werden, aber wir hatten keine Wahl. Wir konnten sie unmöglich nicht besuchen. »Was machen wir, nachdem wir sie besucht haben?« Ich wollte, dass Berner sicher war, wir würden davonkommen.
»Dann gehen wir ins Rainbow Hotel essen«, sagte sie, »laden all unsere Freunde ein und feiern eine große Party.«
Berner erzählte niemals Witze – da war sie, laut unserem Vater, wie unsere Mutter. Sie hatte eben keine komische Ader. Aber als sie sagte, wir würden ins Rainbow Hotel gehen und unsere Freunde einladen, dachte ich, vielleicht hatte sie andauernd Witze erzählt, und keiner hatte es gemerkt. Nichts an Berner war einfach. Sie drehte sich am Fenster um, verschränkte die Arme und sah mich mit ihrem harten Blick an. Dann lächelte sie. »Ich weiß nicht, was wir danach machen«, sagte sie. »Was immer Kinder machen, deren Eltern im Gefängnis sind. Darauf warten, dass was Schlimmes passiert.«
»Ich hoffe, nichts Schlimmes passiert«, sagte ich.
»Du musst nicht lang danach suchen«, sagte Berner. »Es findet dich, wo immer du dich versteckst.«
Gut möglich, dass manche Menschen mit einem bestimmten Wissen geboren werden. Berner hatte schon begriffen, dass alles, was gestern, am Tag und am Abend, geschehen war, uns geschehen war, nicht nur unseren Eltern. Das hätte ich wissen müssen. Ich war so viel jünger als sie, obwohl wir das gleiche Alter hatten. Im Lauf der Jahre sollte ich die Welt nie so genau kennenlernen wie sie – was in mancher Hinsicht gut ist. In manch anderer überhaupt nicht.
36
Das Gefängnis lag auf der Rückseite des Gerichtsgebäudes von Cascade County, an der Second Avenue North. Vor zwei Tagen waren wir mit unserem Vater daran vorbeigefahren. Ich
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