Kanadische Traeume
haben doch Ihrer Cousine gesagt, Sie wollten mich näher kennenlernen.”
“Das habe ich eigentlich nicht gesagt.”
“Und was haben Sie dann gesagt?” Sein Ton war neckend, aber in seinen Augen blitzte es beunruhigend.
Obwohl sich Charity oft darüber ärgerte, wollte sie nicht verraten, daß Mandy, wenn es ihr in den Kram paßte, öfter die Wahrheit ein bißchen zurechtbog. “Ich erinnere mich nicht, aber Mandy muß mich mißverstanden haben.”
“Raten Sie”, ermutigte er sie. “Wir haben alle Zeit der Welt.
Der Regen läßt nicht nach.”
Ach so! Ein Spiel, damit er in ihrer Gesellschaft nicht vor Langeweile starb. Daß sie diese Wirkung auf Männer hatte, war sie eher gewohnt.
“Ein einflußreicher Geschäftsmann. Nur weiß ich nicht, welches Geschäft.”
“Sie sind schon ziemlich nahe dran. Was hat mich verraten?”
“Der Mercedes und die Seidenhemden.”
“Warum nicht Anwalt oder Arzt oder Steuerberater?”
“Für einen Arzt sind Sie zu brutal, für einen Anwalt nicht gerissen genug und für einen Steuerberater nicht langweilig genug.”
“Ich finde nicht, daß ich brutal bin.”
“So ist das bei brutalen Leuten.”
“Wenigstens halten Sie mich nicht für gerissen oder langweilig.”
“Es kann Ihnen doch egal sein, was ich von Ihnen halte.”
“Ich weiß nicht, warum, aber es ist mir nicht egal.”
Ihre Blicke trafen sich, und Charity wurde es wieder sehr unbehaglich zumute. Sie schaute weg und wühlte im Korb. Sie fand ein paar große Stücke Kuchen und hielt Matthew eins hin.
Er schnupperte daran. “Was denken Sie, was da drin ist?”
“Ich habe keine Ahnung, aber er schmeckt phantastisch.”
Als er sein Stück zur Seite legte, verstand sie sofort. “Haben Sie eine Allergie?”
Er schien nicht erfreut. Männer! dachte Charity. Sie legen jede Kleinigkeit als Schwäche aus.
“Mandeln bekommen mir nicht.”
“Reagieren Sie sehr stark darauf?”
“Ohne sofortige ärztliche Hilfe könnte die geringste Spur davon tödlich für mich sein.”
Charity war froh, daß er vorsichtig war. Wenn er hier eine allergische Reaktion zeigen würde, könnte sie ohne ihre Erste-Hilfe-Tasche gar nichts machen. In einem solchen Fall half nur Adrenalin, direkt in die Ader.
“Jetzt kennen Sie meine Achillesferse. Wenn ich Sie jemals wütend machen sollte! Ich lege Ihnen dieses Schwert zu Füßen, schöne Maid.”
Leider würde ihr hippokratischer Eid es verhindern, daß sie je davon Gebrauch machte.
Sie aßen schweigend das frische Obst, das noch in dem Korb gewesen war. Obwohl Charity selten Alkohol trank, leerte sie ihre kleine Flasche Wein in der Hoffnung, es würde ihr dadurch wärmer werden. Es war längst nicht mehr so gemütlich unter ihrem Baum. Langsam drang die Feuchtigkeit durch, und Charity hatte nur ein dünnes T-Shirt und Shorts an.
“Vielleicht könnten wir ein Feuer machen”, schlug sie vor.
“Und womit, liebes Lieschen?”
“Mit den Streichhölzern, mit denen Sie immer Ihre garstigen Zigarren anstecken.”
“Seit Ihrer Lektion über die Lunge habe ich keine meiner garstigen Zigarren mehr geraucht.”
“Tatsächlich?” Charity sah ihn erstaunt an.
“Sie sollten diese Rede verpacken und an die Grünen vermarkten.”
Charity erlaubte sich, leicht zu lächeln. Hauptsächlich, weil er ihren ärztlichen Rat befolgt hatte und immer noch nicht wußte, daß sie Ärztin war.
“Außerdem ist es keine gute Idee, ein Feuer zu machen. Ich habe diese Gegend so früh im Jahr noch nie so trocken gesehen”, fuhr Matthew fort.
“Aber jetzt doch nicht mehr”, sagte Charity.
“Es müßte vermutlich eine Woche lang so regnen, um die Feuergefahr in diesen Wäldern merklich zu verringern.”
“Für jemand, der aus London kommt, wissen Sie sehr gut Bescheid über den Zustand der Wälder im Okanagan”, sagte Charity überrascht.
“Ich bin hier aufgewachsen”, erwiderte er leise und auf eine Art, die es klarmachte, daß er nicht von sich sprechen wollte, schon gar nicht mit ihr. Jedenfalls hatte Charity diesen Eindruck.
Vielleicht war er deshalb hier. Ein harter, kalter, zynischer Mann, den eine Frau gepeinigt hatte. Charity war sich ganz sicher. Und irgendwie hatte dieser Schmerz ihn hierher zurückgeführt, auf der Suche nach einer längst verlorenen Unschuld, nach der Arglosigkeit seiner Jugend, um die Qual in seinem Herzen zu lindern.
Beide suchten sie in diesem Sommer nach etwas, das in ihrem Leben verlorengegangen war.
Es regnete immer noch. Außer dem
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