Kanaken-Gandhi
pinkeln«, übersetzt Rüdiger seinem Dackel. Der Hund, Rüdiger und ich, wir springen in die nächste Straßenbahn.
Gerade will ich mich hinsetzen, da stößt mich jemand brutal in die Seite:
»Erst setzen sich die Deutschen, dann die Kanaken!«
In dem Moment ärgere ich mich zum 23. Mal in diesem Leben darüber, dass die Türken keine Messerstecher sind, wie allgemein angenommen wird.
»Straßenbahn fahren darf ich nicht, da schneidet man mir manchmal sogar die Ohren ab, zu Fuß werde ich angepöbelt, Auto fahren will ich auch nicht immer, wegen der Umwelt, und fliegen kann ich noch nicht. Rüdiger, kannst du mir bitte sagen, wie ich mich in dieser Stadt, in der ich seit Jahrzehnten lebe, fortbewegen soll, falls ich doch hier bleiben darf?«
Ich nehme Rüdiger und den Dackel an die Hand, und an der nächsten Haltestelle klettern wir wieder aus der Straßenbahn. Da kommt uns der Holger entgegen. Holger ist einer der Mitbewohner aus Rüdigers Wohngemeinschaft.
»Na, Rüdiger, lebst du noch?«
»Natürlich lebt er«, antworte ich, »Rüdiger ist doch unsere stärkste Stütze!«
»Wie, Rüdiger, soll das heißen, dass du Herrn Engin immer noch nicht die Wahrheit erzählt hast?«
»Was für eine Wahrheit, wovon redest du, Holger?« frage ich.
»Herr Engin, der Rüdiger ist der unfähigste Selbstmörder, den es je gegeben hat. Mit seinen Selbstmordversuchen hat er jeden in unserer WG verrückt gemacht. Erst letzte Woche hat er versucht, Zyankali zu schlucken, sich vor den Zug zu werfen und sich aufzuhängen. Und er hat mehrere Busreisen unternommen.«
»Rüdiger, stimmt das etwa alles?« frage ich überrascht.
»Was hätte ich sonst machen sollen, Osman?« sagt Rüdiger verzweifelt. »Zyankali wirkte nicht bei mir, der Zug wurde umgeleitet, und das Seil ist mehrere Male gerissen! Und mit den Busreisen hatte ich auch kein Glück. In letzter Zeit gibt es doch in Deutschland nur noch eine sichere Selbstmordmethode: indem man sich soviel wie möglich in den Wohnungen von Ausländern aufhält! Da ist man schon mit einem Bein im ...«
»... in Deutschland!«
Montag, 18. Juni, 23:55 Uhr
Enttäuscht und frustriert laufe ich alleine nach Hause. Der ganze Tag war eine einzige Katastrophe! Ich brauche unbedingt etwas Zä rtlichkeit, Liebe und Verständnis!
Kaum bin ich im Schlafzimmer, falle ich deswegen wie ein wildes Tier über meine Frau her.
»Hiiilfeee, Triebtäter, Vergewaltiger!« schreit sie voller Angst.
»Frau, sei ruhig, ich werde dich schon nicht umbringen. Du weißt schon, was ich will!«
»Halt ein, Osman, überleg es dir noch mal. Das ist doch glatter Inzest, was du machst, Blutschande! Geh doch fernsehen, die Kinder schlafen schon. Treib’s doch mit der Fernbedienung.«
»Wieso Blutschande? Du bist immer noch meine Frau, soviel ich weiß.«
»Aber in den vielen Jahren, in denen nichts zwischen uns gelaufen ist, da sind wir wie Brüderchen und Schwesterchen geworden.«
»Komm, lass die Scherze. Selbst wir müssen von Zeit zu Zeit unseren ehelichen Pflichten nachkommen, so schwer es auch ist.«
»Das nennst du Erfüllung ehelicher Pflichten? Wenn du alle zehn Jahre einmal auf solche Ideen kommst?«
»Frau, du weißt das doch, der sexuelle Reiz nützt sich bei Ehepaaren leider nach vier Jahren ab und dann ... »
»Du solltest sagen, dass es bei normalen Menschen vier Jahre sind. Aber bei dir war schon nach zwei Wochen alles vorbei.«
»Aber Eminanim, schau doch, das ist alles zu erklären und ganz logisch. Wenn die Liebe bei anderen Ehepaaren schon nach vier Jahren, also nach ungefähr 1.500 Tage n, stirbt, dann ist es doch mehr als normal, wenn bei uns nach über 33
Ehejahren, also nach fast 12.000 Tagen, totale Funkstille herrscht. Das bedeutet doch 12.000mal zusammen frühstücken.
24.000mal zusammen essen, davon mindestens 5.500mal angebrannte Bohnensuppe. 15.000mal streiten, warum das Essen immer noch nicht fertig ist, warum man der Blondine nachgeschaut hat, warum man am Mittag immer noch mit dem Morgenmantel rumläuft, oder warum die Fingernägel schon wieder dreckig sind, oder warum das Ei schon wieder eine Minute zu lang gekocht worden ist, oder warum man vergessen hat, die Blumen zu gießen, oder welche Schwiegermutter die Schlimmere ist. Mehr als 40.000 Stunden gemeinsam fernsehen.
Mehrere tausend Male sich beim Einkaufen in die Haare kriegen, ob der Ziegenkäse im Laden gegenüber doch nicht drei Pfennige billiger ist, oder ob man statt dessen lieber eine
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