Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
vollem Mund.
»Zuletzt haben sie zusammen Kerzen gezogen.«
»Schon seltsam, wie gut sie heute miteinander klarkommen, oder?«
»Hm, der erste Schnee lässt immer irgendetwas Magisches passieren«, erwidere ich nachdenklich und nippe an meinem Punsch.
»Möchtest du mal probieren?« Jan hält mir seinen Schokospieß hin.
»Gern.« Ich beuge mich zu ihm hinüber und für einen ganz kurzen Moment flammt die Erinnerung an Stephans Geburtstag in mir auf. Jan scheint es genauso zu gehen, und wir beide sehen uns schweigend in die Augen. Ein Holzscheit vor uns knackt laut, und orangefarbene Funken sprühen wie ein Miniaturfeuerwerk durch die kalte Nachtluft. Ich ziehe hastig eine Erdbeere vom Spieß, setze mich wieder gerade hin und starre in das Feuer.
»Musst du noch oft an den Kuss denken?«, fragt Jan plötzlich leise.
Ich nicke kaum merklich.
»Ich auch. Dieser Kuss hat irgendwas zwischen uns kaputt gemacht.«
»Denkst du?«, frage ich erstaunt.
»Du nicht?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht war schon vorher irgendetwas anders, und wir haben es bloß nicht gemerkt?«
»Keine Ahnung. Ich will dich nicht als meine beste Freundin verlieren – aber genau das würde ich bei einem weiteren Kuss.«
»Wahrscheinlich«, murmele ich.
»Also sollten wir die ganze Sache einfach vergessen.«
»Genau.«
»Und es darf sich nicht wiederholen.«
»Das wird es nicht«, gebe ich mich optimistisch, aber ich fühle mich nicht glücklich mit meiner Antwort. Warum? Wieso bin ich nicht zufrieden damit? Das war doch genau das, was ich wollte! Das Ganze vergessen, damit alles wieder wie früher werden konnte!
»Guck mal, es schneit wieder«, freut sich Jan neben mir. Tatsächlich, es schneit. Weiße Daunen, die vom schwarzen Nachthimmel langsam auf die Erde herabschweben und sich geräuschlos über die Welt legen. Caruso schnappt nach kleinen weißen Flocken, und ich sehe zu Jan. Sein Gesicht wird vom flackernden Schein des Lagerfeuers erhellt, tausend kleine Lachfältchen haben sich um seine Augen herum gebildet. Einzelne Schneeflocken verfangen sich in seinen Haaren und in seinen Wimpern, und auf seiner Unterlippe schmilzt ein Schokoladensplitter. Nie habe ich Jan mehr geliebt als in diesem Augenblick. Das wird mir ganz plötzlich bewusst, mit einem Schlag, der mir fast den Boden unter den Füßen wegreißt, und als mir klar wird, dass ich ihn nicht haben kann, ohne ihn gleichzeitig zu verlieren, nimmt mir der Schmerz den Atem und treibt mir Tränen in die Augen.
»Ich glaube, wir müssen gehen, sonst schaffen wir den Zug nicht mehr«, stammele ich und springe auf. Caruso hüpft aufgeregt um mich herum.
»Aber …«, Jan wirft einen irritierten Blick auf seine Armbanduhr, »meinst du wirklich?«
Ich bleibe ihm die Antwort schuldig und stolpere tränenblind davon. Ich muss Nina finden oder Stephan.
Warum Jan? Warum ausgerechnet er? Warum nicht Michael, der nette Typ aus meinem Studium? Oder Chris, der charismatische Kumpel von Stephan, der mir im Treppenhaus immer ein umwerfendes Zahnpastalächeln zuwirft, bevor er in der Jungs-WG verschwindet? Oder irgendein Typ aus der U-Bahn, dem Supermarkt oder der Stammkneipe? Nein, ich verknalle mich natürlich in meinen besten Freund! Scheiß Liebe! Scheiß Schnee! Scheiß Weihnachten! Toll, auf neun Uhr auch noch ein heftig knutschendes Pärchen. Das hatte mir gerade noch gefehlt!
Aber halt: Ist die Frau, die da gegen den steinernen Zentaur gedrückt und leidenschaftlich geküsst wird, nicht Nina? Und der Typ Andy? Ich bleibe stehen und starre in die Dunkelheit, auf die eng umschlungenen Schemen vor mir, die nur vom schwachen Schein der Fackeln ringsum angeleuchtet werden. Ja, sie sind es. Und anstatt dass ich mich, wie ich es normalerweise tun würde, für sie freue, sticht es in meiner Herzgegend, und das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich drehe mich um und laufe Richtung Ausgang, dabei schiebe ich rücksichtslos die Menschenansammlungen auseinander, die mir immer wieder im Weg stehen. Plötzlich renne ich mit voller Wucht gegen einen Mann im grauen Wollmantel.
»Vicky?«
Ich hebe den Kopf und sehe direkt in Stephans erstauntes Gesicht. Und dann sinkt mein Kopf gegen seine Brust, und ich werde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt.
»Vicky …«, sagt Stephan wieder, diesmal leise und sanft. Er knöpft seinen Mantel auf, zieht mich an sich und klappt den dicken Wollmantel um mich herum wieder zusammen, um mich vor den neugierigen Blicken der anderen Leute zu schützen.
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